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von Inka Grabowsky, 23.10.2018

Dem Mythos auf der Spur

Dem Mythos auf der Spur
Sonnenaufgang zu Mittwinter gesehen von der Galluskapelle in Oberstammheim | © Urs Hähni

Der interdisziplinäre Forschungsansatz der Landschaftsmythologie sucht Zusammenhänge zwischen der Topographie, der Astronomie und archäologischen Fundstätten. Ein Weininger Heimatforscher ist Experte dafür geworden.

Mythische Orte haben es Urs Hähni angetan. Mit Mystik hat er dagegen nichts am Hut. Der Architekt aus Weiningen nutzt gesicherte Erkenntnisse aus Archäologie, Astronomie, Geographie, Ethnologie und Sprachwissenschaft, um zu verstehen, wie sich Menschen in grauer Vorzeit Siedlungs- und Kultplätze ausgesucht haben. Vor neun Jahren hat er die Landschaftsmythologie für sich entdeckt. Er hatte an einer Exkursion des Kulturanthropologen Kurt Derungs teilgenommen, der die Disziplin in den neunziger Jahren begründet hat. Seitdem erkundet er selbst im Thurgau und den angrenzenden Regionen Mythen und ihre Ursprünge. Gerade ist von Derungs und Hähni ein neues Buch erschienen: „Korngeist und Feuerkult – Keltenland zwischen Rhein, Thur und Säntis“.
 
Die Erkenntnisse der beiden Forscher beschränken sich nicht auf die Zeit der Kelten. „In der Jungsteinzeit vor 6000 Jahren, als die Menschen auch bei uns langsam sesshaft wurden, benötigten sie einen jahreszeitlichen Bauernkalender. Da Sonne und Mond im Jahresverlauf jeweils an unterschiedlichen Positionen über dem Alpstein aufgehen, ergeben sich Orientierungspunkte“, so der 54-Jährige. Zur grossen Mondwende sieht man vom Thurgauer Seebachtal sowie vom Zürcher Stammertal aus den Vollmond genau über dem Säntis aufgehen. Zu Mittwinter geht die Sonne beim Hohen Kasten auf. Interessanterweise liegen auf solchen Beobachtungs- oder Sichtlinien beispielsweise die Martinskirche in Warth, die Pfahlbauten am Hüttwilersee, das Schloss Girsberg in Guntalingen oder das Grabhügelfeld bei Bachwies-Geeren in Stammheim. Ausserdem liegt ein besonderer Aussichtspunkt auf dem Chirchbuck bei der Galluskapelle in Oberstammheim. Derungs und Hähni gehen davon aus, dass dieser Höhenort schon den Pfahlbauern als Beobachtungsplatz und Kultort diente.

Urs Hähni: Architekt, Heimatforscher und Produktentwickler
Urs Hähni: Architekt, Heimatforscher und Produktentwickler. Bild: Inka Grabowsky

 

Jahrhundertealte Sagen als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt für die Arbeit des Heimatforschers sind unter anderem lokale Sagen und Volksbräuche, die sich über Jahrhunderte erhalten haben, obwohl sie den christlichen Institutionen nicht immer gefielen. Vor rund hundert Jahren wurde beispielsweise rund um Stammheim im Januar noch der Gläreli-Brauch gepflegt, bei der eine kleine Strohpuppe über Häuser geworfen und nach drei Tagen rituell begraben wird. „Es gibt schriftliche Nachweise dafür schon aus dem 14. Jahrhundert“, sagt Hähni. „Heute ist das Brauchtum im christlichen Hilariustag aufgegangen. Ursprung dürfte aber nicht die Verehrung des Bischofs von Poitiers gewesen sein, sondern die eines Fruchtbarkeit spendenden Korngeistes, der im Jahreskreis heranwächst, stirbt und wiederkehrt.“ Man stellte sich vor, dass im wogenden Kornfeld ein lebendiger Geist wohnt. Bei der Ernte musste dieses „Gläreli“ den Sensen immer weiter ausweichen, bis es schliesslich in der letzten Garbe Zuflucht nahm. Über die bestattete Strohpuppe oder die letzten Körner, die als Glücksbringer ins neue Saatgut gemischt wurden, gaben die Menschen dem Acker den Geist zurück.

Vom Gläreli und Schometgretli

Urs Hähni reicht es nicht, die kulturhistorischen Zusammenhänge zu erkennen. Er will sie als landschaftliches Kulturerbe auch vermarkten. Dazu hat er mit Kurt Derungs die Agentur „Feine Schweiz“ gegründet, die Markennamen für regionale Produkte entwickelt. Der Korngeist Gläreli schmückt nun unter anderem eine Whiskyflasche. Auch seinem weiblichen Pendant, dem „Schometgretli“, ermöglicht die Agentur eine weitere Karriere. Der Sage nach war sie die unverheiratete Erbin des Schometwaldes. Ein Stammheimer Junggeselle erklärte sich bereit, sie zu heiraten, um das Land für seine Gemeinde zu erlangen – doch er ergriff bei ihrem Anblick die Flucht. Die Frau verfluchte daraufhin Stammheim und wurde mit der Zeit zur Schreckgestalt des Waldes, besonders für unfolgsame Kinder. Ursprünglich dürfte sie eine Schutzgöttin der Gegend gewesen sein, vermuten die Forscher. Das Schometgretli soll über einen Wein und einem Cider nun wieder gesellschaftsfähig gemacht werden. 
  
„Korngeist und Feuerkult – Keltenland zwischen Rhein, Thur und Säntis“ von Kurt Derungs und Urs Hähni.  Verlag Edition Amalia,  ISBN 978-3-905581-41-6. 36,90 CHF  
 

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