von Inka Grabowsky, 29.04.2019
Liebe in Zeiten der Grenzöffnung
Der tschechisch-stämmige Autor Adolf Jens Koemeda aus Ermatingen verquickt in einem neuesten Buch eine Liebesgeschichte mit dem Gründungsmythos der Tschechoslowakei.
„Ein Buch, das in keiner Bibliothek eines Lesers mit böhmischen oder sudetendeutschen familiären Wurzeln fehlen sollte“, lobt der Germanist Hermann Kinder in seinem Vorwort. Siegmund Kopitzki, Kulturredaktor des Südkurier im Ruhestand und Freund sowohl von Kinder als auch von Koemeda, ergänzt in seiner Laudatio bei der Buch-Vernissage: „Alle Leser haben böhmische oder sudentendeutsche familiäre Wurzeln.“ Das Thema gehe alle etwas an. Jens Koemeda schreibe über Geschichte, aber eben kein Geschichtsbuch, sondern einen Liebesroman über Grenzen hinweg.
Die Ich-Erzählerin in „Masaryk“, Laura Bennet, ist eine 42-jährige Lehrerin, die in Bayern aufgewachsen ist, aber sudetendeutsche Wurzeln hat. Sie ist nach einer gescheiterten Liebe in psychiatrischer Behandlung und soll, um sich über sich selbst klar zu werden, einen Bericht über die Entwicklung ihrer Beziehung zum Tschechen Pavel Mandlík verfassen. Er ist Lektor und Historiker, der an einem Forschungsprojekt zu Tomáš Garrigue Masaryk arbeitet. Da Laura über den Mitbegründer der Tschechoslowakei nur wenig weiss, muss Pavel ihr – und damit uns Lesern - alles erklären. Pavels Motivation für seine Untersuchung ist klar: „Vielleicht hing es mit der Wende neunundachtzig zusammen. Man wollte mehr wissen, man wünschte sich mehr Transparenz, ja mehr Wahrheit ... unter den Kommunisten ein seltenes Gut.“ (...) Die Frage war: handelt es sich bei ihm um einen glühenden tschechischen Patrioten oder doch um einen zielstrebigen und energiegeladenen Machtmenschen.“
Mit der Novelle lassen sich historische Bildungslücken auffüllen
Bei der Lesung in der Kreuzlinger Büecherbrugg zeigt eine Stichprobe, dass fast die Hälfte der Besucher nicht viel mit dem Namen Masaryk anfangen können. Durch die Lektüre der Novelle können sie bequem die Bildungslücke auffüllen. Dabei müssen sie in Kauf nehmen, dass die vielen Informationen über Masaryk der Ich-Erzählerin zwar von unterschiedlichen Figuren gegeben werden, diese aber alle den gleichen Tenor haben. Die Charakterisierung der Protagonisten (zum Beispiel durch ihre Wortwahl) ist für die Informationsvermittlung nachrangig.
Angeregt zum Buch wurde Jens Koemeda von seinem Freund Pavel Berkovsky, der ihm die Recherchen von Tomáš Krystlík näherbrachte. Der umstrittene tschechisch-deutsche Journalist hatte in einem Buch die dunklen Seiten des Volkshelden Masaryk aufgedeckt. „Väterchen Masaryk nennen ihn die Tschechen zum Teil immer noch“, sagt Adolf Jens Koemeda. „Mir war diese Verehrung schon als Gymnasiast verdächtig. Kein Mensch ist nur gut.“ Rund zwei Jahre hat er dann selbst Informationen zusammengetragen und lässt nun die Figur Pavel – benannt nach seinem Freund – in der Novelle referieren, was vor der Staatsgründung der Tschechoslowakei mutmasslich tatsächlich abgelaufen ist.
Die Demontage eines Volkshelden
Masaryk war demnach gemässigter Antisemit und im ersten Weltkrieg ein Spion gegen sein Heimatland Österreich, zu dem Tschechien damals gehörte. Die Logik ist bestechend. Wenn die k.u.k. Monarchie durch einen verlorenen Krieg zerbricht, ist die Unabhängigkeit leichter zu haben. Seine Leistung als Philosoph sei fragwürdig: „Mit Ausnahme von einigen tiefsinnig klingenden Aphorismen brachte er keine eigenen philosophischen Gedanken unter die Leute“, lässt Koemeda einen Kritiker des Helden sagen. Der charismatische Politiker sammelt unter anderem bei Exil-Tschechen Geld für die Öffentlichkeitsarbeit der Unabhängigkeitsbewegung. „Wie es Masaryk später arrangierte, dass es in seine Taschen floss und vom wem es konkret ‚gespendet‘ worden war, nein, darüber weiss ich zu wenig“, so die Mutter des Forschers in der Novelle.
Den Kritikern stellt Koemeda fairerweise Figuren entgehen, die bekennende Masaryk-Fans sind. Die Mutter der Erzählerin gehört dazu: „Masaryk war Philosoph, in erster Linie aber ein Humanist und ein politisches Genie. (...) „Dass meine Grosseltern und Eltern in Tschechien relativ gut leben konnten, ist nur Masaryk zu verdanken: Seinem Mut, seiner Weitsicht, seinem Verhandlungsgeschick (...).“
Zwei Leben, zwei Welten: Pavel und Laura finden nicht zueinander
Die Gespräche des Paars über den Politiker sind der Infotainment-Teil des Buches. Daneben können sich die Leser darüber klar werden, wie sehr die unterschiedlichen politischen Systeme diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs die Menschen geprägt haben. Die Protagonisten Pavel und Laura sind fast gleich alt und nur zwei Autostunden voneinander aufgewachsen. Beide sind gebildet und haben vergleichbare Wurzeln. Dennoch entzweien sie sich wegen unterschiedlicher Lebensstile und unterschiedlicher Werte. Laura bemängelt die mangelnde Körperhygiene ihres Freundes, seine Eifersucht und seine mangelnde Einsicht in sein Alkoholproblem.
Für Pavel gehört die in Bayern sozialisierte Laura zur degenerierten Welt der Westmenschen, zu den wohlstandsverwahrlosten Weichlingen. Ihre Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten würden sich nach einer Woche in der Ost-Ukraine schnell geben. „Du würdest mit der Zeit nicht nur mich verstehen, sondern auch die Welt, in der ich lebe, meine postkommunistische Welt.“ Nach Wahrheiten wie diesen ist eigendlich kein Happy End mehr zu erwarten – allerdings firmiert „Masaryk“ als Novelle, die per definitionem eine «unerhörte Begebenheit» enthält. Und genau diese verändert den erwarteten schlechten Verlauf der Geschichte zu ihrem wenigstens offenen Ende.
„Masaryk“, Novelle von Adolf Jens Koemeda, erschienen im Münsterverlag, 240 Seiten, 25 Franken.
Video zur Lesung
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