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von Barbara Camenzind, 30.01.2023

Mitkrähen erwünscht

Mitkrähen erwünscht
Volle Stimmkraft voraus: Bei den neuen Krabbelkonzerten in Weinfelden ist mitsingen unbedingt erlaubt. | © Archiv

Neues Angebot: In Weinfelden gibt es ab März Konzerte für Kinder von 0 bis 5 Jahren. Die Initiator:innen des Schweizerischen Musikpädagogischen Verbands (SMPV) erklären, was Familien dort erwartet. Das Gespräch mit der Jazzmusikerin Sarah Bächi, dem Barockcellisten Jakob Valentin Herzog und der Komponistin Barbara Hidber wurde online geführt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Am 11. Februar starten die Krabbelkonzerte in Weinfelden mit Jazz, am 11. März ist ein Barockkonzert geplant, gefolgt von Zeitgenössischer Musik am 22. April und am 13. Mai Romantik mit Akkordeon. Das klingt nicht nur für die Kleinen spannend. Wie seid ihr darauf gekommen?

Jakob Valentin Herzog: Wir sind Eltern geworden und kennen die Herausforderungen, wenn kultur- und musikaffine Eltern eine Veranstaltung besuchen wollen. Da muss eine Babysitterin gefunden und viel organisiert werden. Wenn wir die Kinder mitnehmen, sind auch geübte kleine Konzertbesucher manchmal nicht ganz fit und dann muss man hinaus, das ist anstrengend, vor allem, wenn man auch noch 50 Fr. für ein Ticket bezahlt hat. Darum haben wir beschlossen, Konzerte für die ganze Familie anzubieten, mit einem niederschwelligen Angebot. Die Hürde kann hoch sein. Mit Kindern dabei, oder mit Kindern betreut eine Kulturveranstaltung zu besuchen. Die wollen wir möglichst niedrig halten.

Barbara Hidber: In Zürich in der Tonhalle gibt es bereits solche Veranstaltungen, die sehr beliebt sind beim grossen und kleinen Publikum. Im Thurgau gab es meines Wissens  bis jetzt keine solche Konzerte, in denen diese Stilrichtungen eingesetzt und gerade auch für die Kleinsten angeboten werden. Da wollen wir eine Lücke schliessen.

Sarah Bächi: Wir arbeiten alle an Musikschulen. Uns ist aufgefallen, dass viele Kinder und ihre Eltern wenig bis keine Konzerterfahrung haben und auch zum Beispiel keine Kinderlieder mehr kennen. Vielleicht schaffen wir es, diese zu erreichen.

 

Jakob Herzog, Sarah Bächi, Barbara Hidber und Wolfgang Pailer vom SMPV Sektion Thurgau. Bild: Oliver Pailer

 

„Uns ist aufgefallen, dass viele Kinder und ihre Eltern keine Kinderlieder mehr kennen.“

Sarah Bächi, Saxophonistin

Wo ein Angebot ist, kann es genutzt werden. Versucht ihr auch, Menschen zu erreichen, die Musik- und klassischen Kulturveranstaltungen eher fern bleiben?

Herzog: Als Musiklehrpersonen sehen wird das pessimistisch realistisch. Die Familien, in denen eh schon viel unternommen wird, mit Sport oder Instrument, Vereinen, die werden wir sicher leichter ansprechen. Die Familien, die eher unter sich bleiben, wohl eher nicht. Aber wir versuchen es. Wie gesagt, das Angebot ist möglichst niederschwellig gehalten, es wird kein Eintritt verlangt, sondern eine Kollekte.

Dann ist also Mitkrähen erwünscht?

Hidber: Ja. Die Kinder dürfen und können ihrer Natur gemäss auf die Musik reagieren. Mit Bewegung, Stimme und Berührung. Wir sind überzeugt, dass die Kinder und Eltern spüren, wie so ganz viel Druck herausgenommen wird. Es ist ja erfahrungsgemäss wie in einer selbsterfüllenden Prophezeiung, dass das „leise sein müssen“ eher das Gegenteil bewirkt.

 

„Die Kinder dürfen und können ihrer Natur gemäss auf die Musik reagieren.“

Barbara Hidber, Komponistin

Ihr seid selber aktiv an drei dieser vier Konzerte. Sarah, was hast du mit dem Jazz geplant?

Bächi: Wer an Kinderlieder denkt, denkt nicht in erster Linie an Jazz. Dabei bietet diese Stilrichtung einen sehr kreativen Umgang mit der Musik. Und das ist ziemlich cool: Mit Saxofon und Seline Jetzer an der Harfe, mit der ich mich extra dafür zusammengetan habe. So gehen wir auf eine Reise durch bekannte Melodien, gepaart mit Swing und Blues und auch sehr sanften Klängen.

Das klingt ziemlich chillig. Jakob, Barockmusik- ziehst du im Konzert eine Perücke an?

Herzog: (lacht) nein, das nicht. Barockmusik war und ist zwar immer ein Happening, aber die Musik, die ja gar nicht per se für Kinder geschrieben wurde, soll im Vordergrund stehen. Meine Frau Lisa an der Geige und ich haben uns zum Ziel gesetzt, diese magischen Satzmodelle, die einen so „reinziehen“ können, zu spielen. Das berühmte Ostinato „La Follia“, dann Bibers Kuckuck und noch andere, die Besetzung Geige-Cello war schon früh üblich, aber mit Cembalo vor Carl Philipp Emmanuel Bach noch gar nicht so postuliert. Insider kommen sicher auf ihre Kosten. Aber auch hier uns ist es wichtig, die Zuhörenden gut abzuholen. Zumal ja die Barockmusik mit ihren harmonischen Pattern das Fundament legte für die Popmusik.

Jetzt wird's spannend: Barbara, was hast du vor als Zeitgenössische Komponistin?

Hidber: Es wird eine musikalische Geschichte geben „Tiger und Bär“. Ich spiele Geige und Rahel Pailer wird singen. Einerseits sind es Kinderlieder, die ich neu komponiert habe und leicht zugänglich sind. Andererseits werden wir wie bei einer Filmmusik die Handlung mit Geräuschen und freitonalen Sequenzen illustrieren. Interessant ist ja, dass viele Menschen grosse Berührungsängste mit experimenteller Musik haben und völlig vergessen, dass die Filmbranche schon lange damit arbeitet. Das merkt man meistens erst, wenn das Bild weg ist.

 

„Interessant ist ja, dass viele Menschen grosse Berührungsängste mit experimenteller Musik haben und völlig vergessen, dass die Filmbranche schon lange damit arbeitet.“

Barbara Hidber, Komponistin

Und im Mai, dann Romantik mit Mario Porreca am Akkordeon. Das klingt auch sehr nahe am Menschen. Wenn ich euch so zuhöre, spüre ich, wie ihr der klassischen Konzertsituation, wie sie seit etwa 150 Jahren gepflegt und in andere Stilrichtungen übertragen wurde, eine Art Update in Sachen Zugänglichkeit verpasst. Die da oben auf dem Podium, die da unten hören zu - das war einmal?

Herzog: Das darf ja auch sein. Was wir vom Musikpädagogischen Verband Thurgau aber versuchen, ist eine Lücke zu schliessen. Das war und ist ein Kernanliegen des SMPV. Wir sind alles Hochschulabsolventen und arbeiten an Musikschulen. Wir versuchen, im Kanton mit diesen Krabbelkonzerten einen kulturellen und musikpädagogischen Mehrwert anzubieten und freuen uns sehr, dass wir dies zur 10-jährigen Neugründung des SMPV Sektion Thurgau in dieser Form in Weinfelden durchführen können.

 

Der SMPV

Der Schweizerische Musikpädagogische Verband (SMPV) ist der Dachverband der Musikpädagog:innen und diplomierten Musiklehrer:innen in der Schweiz. Der Verein wurde 1893 als Schweizer Gesang- und Musiklehrerverein gegründet und zählt heute rund 3000 Mitglieder. Er ist in 15 Sektionen unterteilt. Die Sektion Thurgau ist hier erreichbar.

 

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