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Mutbürger

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Zwei Vordenker: Theatermann Milo Rau und Schriftsteller Jonas Lüscher | © Von Jonas Rogowski - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57444369

Es gibt Zeiten, da reicht es nicht zu reden. Da muss man auch machen. Schriftsteller Jonas Lüscher und Theatermann Milo Rau machen gerade vor, wie das geht. Warum das ansteckend sein sollte.

Reden wir über Mut. Es gibt Zeiten, da muss man raus aus seiner persönlichen Komfortzone und einfach mal machen. Zeichen setzen, wofür man steht. Und klar sagen, was geht und was nicht geht. Solche Zeiten sind jetzt. Und zwei Schweizer zeigen der Welt gerade, wie man Anstand und Verstand zusammenbringt. 

Jonas Lüscher zum Beispiel. Geboren in Zürich, aufgewachsen in Bern, ist inzwischen zu einem der wichtigsten Gegenwartsdenker und -autoren geworden. Im vergangenen Jahr hat er den Schweizer Buchpreis für seinen Roman „Kraft“ halten. Das Schreiben reicht ihm jetzt nicht mehr. Gemeinsam mit dem österreichischen Philosophen Michael Zichy ruft er zum Handeln auf. In ihrem Aufruf 13-10 fordern sie die Menschen, aufzustehen „gegen Nationalismus. Für ein geeintes Europa“. Europaweit soll am Samstag, 13. Oktober, demonstriert werden. Insgesamt wollen sie 5 Millionen Europäerinnen und Europäer auf die Strasse bringen. 

Es wird Zeit, ein Zeichen zu setzen. Und der Thurgau schweigt

In ihrem Aufruf heisst es: „Wir wollen ein Europa der Freiheit und des Friedens. Stattdessen wird wieder dem Nationalismus das Wort geredet. Intoleranz macht sich breit. Der Hass wird lauter, die Gewalt alltäglicher. Die Angst vor dem Anderen, dem Fremden wird geschürt und in politisches Kapital umgewandelt. Der Ruf nach starken Männern ertönt. Korruption untergräbt die Gesellschaften. Die Rechtsstaatlichkeit erodiert. Soziale Errungenschaften und mühsam erkämpfte Rechte sind bedroht. Freiheit und Frieden sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Es wird Zeit, ein Zeichen zu setzen.“ 

Um 14 Uhr am Samstag, 13.Oktober, soll es Kundgebungen in vielen Städten Europas geben. Lüscher und Zichy sind die Initianden, vor Ort wird es von lokalen Organisationen umgesetzt. Aus unserer Region sind bislang Basel, Zürich, Bregenz und Friedrichshafen dabei. Der Thurgau? Fehlanzeige. Aber vielleicht ändert sich das ja noch im Lauf dieser Woche. Wer eine Kundgebung organisieren möchte, bekommt auch Hilfe auf der Internetseite der Initianden: www.13-10.org  

Auf der Suche nach dem Stadttheater der Zukunft

Ein anderer, in unserer Region wohl bekannter, Mann sorgt gerade auf einem anderen Feld für Aufbruchstimmung. Auch ihm geht es darum ins Handeln zu kommen. Mit seinem „Genter Manifest“ (Gent weil er das dortige Stadttheater ab diesem Herbst leitet) will Milo Rau das Stadttheater der Zukunft bauen. Sein Ansatz: „Alle Versuche, das Modell des Stadttheaters zu öffnen, städtische, nationale und Internationale Produktionsweisen, ein kontinuierlich zusammenarbeitendes Ensemble mit der Offenheit für Gäste zu kombinieren, sind an den impliziten Grenzen des Systems ‚Stadttheater’ gescheitert“, so Rau. Deshalb würden auch die immer gleichen Klassiker „von Schnitzler über Ibsen bis Dostojevski und Tschechow gespielt“.

«Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten.»

Aus Milo Raus «Genter Manifest»

 

Dem will Rau nun etwas entgegensetzen. Der Anspruch ist immens: Es gehe nicht mehr darum, die Welt darzustellen, sondern „es geht darum, sie zu verändern“, heisst es im ersten von zehn Regeln seines Genter Manifestes. Auch die weiteren Regeln sind radikal: Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten. Wenn zu Probenbeginn ein Text - ob Buch, Film oder Theaterstück - vorliegt, darf dieser maximal 20 Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen. In jeder Produktion müssen mindestens zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden, mindestens zwei der Darsteller auf der Bühne, dürfen keine professionellen Schauspieler sein, jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3 Ländern gezeigt werden und mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden (das komplette Manifest gibt es hier). 

Ist das nicht eigentlich „neokoloniales Krisentheater“?

Wer solche klaren und mutigen Setzungen vornimmt, der muss nicht lange auf Widerspruch warten. Vor allem der Punkt der Aufführungen in Kriegs- und Krisengebieten brachte Rau den Vorwurf ein des „neokolonialen Krisentheater, das aus dem edlen menschlichen Elend kreativen und kapitalistischen Profit zieht“, wie es in einem Kommentar auf nachtkritik.de hiess. 

Milo Rau wird sich davon nicht abschrecken lassen. Sein Manifest sei eine Zumutung, räumt er selbst ein. „Aber es ist allemal besser, wenn wir uns über neue, und vor allem: über bekannte Regeln streiten, als dass wir, jeder im Stillen, die ungeschriebenen und damit umso wirkmächtigeren Regeln weiterhin befolgen. Und vor allem ist es besser, wir tun dies konkret, anhand eines real existierenden Stadttheaters, anhand unserer realen Arbeit. Gemeinsam, offen, angreifbar. Und, so hoffen wir, mit jedem Schritt etwas besser und etwas konstruktiver scheiternd“, so Rau weiter. Er darf sich sicher sein, dass seine Arbeit in Belgien in den kommenden Jahren genau beobachtet wird. 

Raus aus der Blase, runter vom Sofa, rein ins Leben

Ob er am Ende Erfolg hat oder nicht, ob am Samstag wirklich 5 Millionen Menschen auf die Strasse gehen und dem Aufruf 13-10 folgen, ist vielleicht auch gar nicht so relevant. Vielleicht geht es tatsächlich vielmehr darum ins Handeln zu kommen. Vom Sofa aufzustehen und nicht mehr so zu tun als gehe einen all das, was in dieser Welt passiert in seiner kleinen heimeligen Blase nichts an. In diesem Sinne: Entsesselt euch!

 

 

 

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