von Judith Schuck, 21.10.2025
Stell dir vor, es ist Krieg

Beklemmender Perspektivwechsel: Eva Kammigan macht mit ihrem Publikum ein Gedankenspiel, das uns in die Situation geflüchteter Menschen versetzt. Ihr Schauspiel findet inmitten der Ausstellung «Können wir verzeihen?» im Haus zur Glocke statt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Zwei Stuhlreihen mit einigen Metern Abstand stehen sich auf dem bemerkenswert schrägen Boden im Dachgeschoss des Hauses zur Glocke gegenüber. Hier sitzt das Publikum am Abend des 15. Oktobers, an dem Eva Kammigan ein Gastspiel in Steckborn gibt. Zwei Stühle auf der jeweiligen Stirnseite sind für die Schauspielerin Eva Kammigan reserviert. Der Gang, der so entsteht, und die beiden Stühle als gegenübergestellte Pole dienen ihr als Bühne. Hinter einem dieser Stühle steht noch ein grüner Benzinkanister – in Anbetracht des Titels des Theaterstücks, das an diesem Abend gezeigt wird, ein bedrohlicher Gegenstand.
«Krieg. Stell dir vor, er wäre hier» ist ein Jugendstück von Janne Teller. Die Dänin veröffentlichte den Text 2002. 2025 zeugt er von beklemmender Aktualität. «Es soll eine Zukunftsvision sein. Für mich ist das Realität», sagt eine Zuschauerin im Nachgang zur Inszenierung des Einfraustücks, bei dem Igor Holland-Moritz Regie führte. Eva Kammigan spielt einen 14-jährigen Deutschen. Es herrscht Krieg. Deutschland existiert nur noch als Teilstück eines autokratischen Europas, in dem Frankreich die Oberherrschaft innehat.
Wohin, wenn alles zerstört ist?
«Wenn bei uns Krieg wäre – wohin würdest du gehen? Wenn durch Bomben der grösste Teil des Landes, der grösste Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du mit deiner Familie lebst, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre? Der Winter steht bevor, die Heizung funktioniert nicht.» So beginnt das Stück, und das ist die Ausgangslage des Erzählers, der das Publikum zu diesem Perspektivwechsel einlädt.
«Du fragst deinen Vater nicht mehr: Wohin? Wohin sollt ihr gehen? Auf „wohin“ gibt es keine Antwort. Eure Familie ist eine Zahl geworden. Fünf? Es gibt kein Land, das weitere fünf Flüchtlinge haben will.» Die Familie landet in einem Flüchtlingslager in Ägypten. Die arabische Welt gilt als sichere Region. Aber «die dekadenten Menschen aus dem Norden», die kein Arabisch können und nicht gewohnt sind, zuzupacken, sind nicht sehr beliebt. Um die Flucht zu finanzieren, musste die Familie alles verkaufen.
Was dem Erzähler bleibt, ist sein Tagebuch. Es soll ihn daran erinnern, «dass es ein Leben vor dem Krieg gab». Das Tagebuch ist die einzige Requisite. Der Benzinkanister ist – zum Glück – ein Teil der Ausstellung «Können wir verzeihen?», ein Objekt von Nicolas Vionnet mit dem Titel «Family Reunion» (Benzinkanister, Kerze, Kerzenwachs, 2022). Wie passend dennoch zum Stück, das nicht mit Drama und Action punktet, sondern mit Empathie – das seinen Inhalt rein über das Mitfühlen und Hineinversetzen transportiert.
Ein beklemmender Reissverschluss
Eva Kammigans dramaturgische Mittel sind ihre Körpersprache und ihr Kapuzenpulli, bei dem sogar das Spielen mit dem Reissverschluss keine gedankenverlorene Bewegung ist, sondern eine, die Welten eröffnen kann. Welten, die die Zwickmühle und das Ausgeliefertsein von Geflüchteten veranschaulichen.
Das Publikum kann sich durch ihr Spiel in die umgekehrte Situation versetzen: Wir hier, mitten in Europa, sind die Schutzbedürftigen, die sich als Geflüchtete in einer fremden Kultur zurechtfinden müssen. Egal, welchen beruflichen Hintergrund wir mitbringen – zunächst einmal sind wir nur lästig.
«Ägypten will keine weiteren Flüchtlinge aus Europa aufnehmen», Europäer seien unzüchtige Heiden, die die Gesellschaft korrumpieren. Besonders die Frauen seien schlecht erzogen «und geben in jeder Hinsicht Anlass zur Unruhe, egal, wie oft man sie über Sitten und Gebräuche ihres Gastlandes belehrt». An dieser Stelle müssen sicherlich einige Zuschauer:innen schlucken.
Nähe und Realität
Das Stück geht nahe. Es macht Angst. So fern wie 2002 ist diese Vorstellung heute nicht mehr. Die grossen Flucht- und Migrationsbewegungen von 2015 sind uns heute näher als die Veröffentlichung des Textes. Mitten in Europa tobt seit vier Jahren der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine.
Doch die Inszenierung verdeutlicht, wie wichtig es ist, uns einzufühlen in die anderen und die Frage zu stellen: «Was wäre, wenn ich in dieser Lage stecken würde?» – weil uns die Fähigkeit zur Empathie menschlich bleiben lässt in unmenschlichen Welten.
Lobby für jugendliche Geflüchtete
Im Anschluss an das Stück kommen Publikum und Schauspielerin nach einer kleinen Verschnaufpause zu einer Nachbesprechung zusammen. Eva Kammigan spielt das Stück üblicherweise an Schulen und in Integrationszentren, wo die Jugendlichen sich inhaltlich darauf vorbereiten. Aus ihrer Erfahrung kann sie sagen: «Jugendliche Geflüchtete sehen den Text als ihren Anwalt, ihre Lobby.» Es nimmt sie also doch jemand wahr – und sieht, wie schwierig es ist, sich in einer neuen Gesellschaft zu etablieren.
Eine Schwäche des Stücks sieht eine Zuschauerin darin, dass Frankreich und Deutschland als Kriegsfeinde gegenübergestellt werden. Sie seien dies ja in der Vergangenheit tatsächlich gewesen, und die deutsch-französische Freundschaft bleibe bis heute harte Arbeit. Ihr hätte es besser gefallen, wenn es fiktive Nationen gewesen wären, die nicht schon geschichtlich vorgeprägt sind. Eva Kammigan glaubt hingegen, dass die realen Nationen ein guter Aufhänger seien, durch den eine bessere Identifikation stattfinden könne.
Buch in Reisepass verpackt
Interessant ist auch, dass der Text von einer Dänin stammt und in Form eines deutschen Reisepasses im Rowohlt-Verlag erschienen ist. Janne Teller arbeitete als Konfliktberaterin für die EU und die UNO und lebt heute in New York und Berlin. Eva Kammigan vergleicht Dänemark als kleinen Nachbarn Deutschlands mit der Schweiz. Vielleicht wäre die Vorstellung, fliehen zu müssen, für eine Dänin oder einen Dänen zu abstrakt?
Über die Rollen der jeweiligen Nationen liesse sich sicherlich diskutieren. Die Stärke des Stücks ist aber der Perspektivwechsel – und der gelingt. «Er regt mehr zum Nachdenken an als jede politische Diskussion», schliesst eine Zuschauerin die Gesprächsrunde zur Inszenierung in Steckborn.
Es war die erste Theateraufführung im Haus zur Glocke, das von der Künstlerin und Kuratorin Judith Villiger geleitet wird. Doch sie findet: «Es passt wunderbar zum Thema unserer aktuellen Ausstellung.»
«Können wir verzeihen?» – mit Werken von Ernst Bösch, Sandra Bucheli, Annegret Eisele und Nicolas Vionnet – ist noch bis zum 25. Oktober zu sehen.

Von Judith Schuck
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