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von Bettina Schnerr, 17.11.2021

Vermessung eines Tabuthemas

Vermessung eines Tabuthemas
Ruth Loosli stammt aus Aarberg (Seeland) und hat bereits einige Arbeiten in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Ihr erster Gedichtband erschien 2009. Mit „Mojas Stimmen“ erschien 2021 ihr erster Roman. | © Anne Bürgisser

Was passiert, wenn ein Angehöriger auf Grund einer psychischen Erkrankung plötzlich wieder viel Betreuung benötigt? Ruth Loosli beschäftigt sich mit dieser Frage in ihrem Debütroman „Mojas Stimmen“ und zeigt die oft unterschätzte Last, die auf den Angehörigen liegt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

„Die Initialzündung für den Roman war die psychische Krankheit eines jungen Menschen in meinem Umfeld,“ erzählt die gebürtige Bernerin Ruth Loosli. „Als Autorin beobachte und notiere ich schon seit vielen Jahren, was mich beschäftigt und so war es nur folgerichtig, dass ich noch während der ersten Verwirrung und Verunsicherung zu notieren begann: Was geschieht mit diesem Menschen, der ganz offensichtlich in eine psychische Krankheit abrutscht?“

Loosli achtete auch darauf, was mit den Menschen im nahen Umfeld vor sich ging. „Die Rolle als Beobacherin und sogar Forscherin“, wie sie sagt, „war wohltuend, das erfahre ich auch in anderen Bereichen, wenn mich etwas stark beschäftigt, auch im politischen Umfeld, in den Krisen unserer Zeit.“ Aus ihren Beobachtungen und aus der Beschäftigung mit dem Geschehenen heraus ergab sich die Idee, die vielfältigen Gefühle literarisch zu fassen.

„In manchen Passagen, Wortfindungen, Bildern dieses Romans zeigt sich auch in der Prosa die Lyrikerin Ruth Loosli. Das hat uns gefallen.“

Irène Bourquin,  Caracol Verlag

Im Buch übernimmt dieses Beschreiben Paula, die Mutter der jungen Moja. Ein vermeintlich harmloser Joint löste bei Moja eine Psychose aus — ein Ausgangspunkt, der auch schon Doris Knecht beschäftigte. Während Knecht sich vor allem um die Befindlichkeiten der getrennt lebenden Eltern kümmert, setzt Loosli bei der verwitweten Mutter an und thematisiert die unberechenbar gewordene Beziehung zur Tochter. Zunächst aus Ich-Perspektive geschrieben, wechselt der Roman schnell in die dritte Person, denn „ich brauche Distanz. Ich will nicht implodieren,“ begründet die Erzählfigur ihren Schritt.

„Laufgitter“: Auch eine literarische Herangehensweise von Ruth Loosli sind Schreibbilder, die ihre Texte begleiten. Bild: Ruth Loosli

Widersprüchliche Gefühle

Mutter Paula, die Zugang zu ihrer abdriftenden Tochter sucht, versucht sich in einem anspruchsvollen Spagat. Das „Kind“, eigentlich längst selbständig, kann keinen normalen Alltag mehr aufrecht erhalten. Moja ignoriert Rechnungen, verliert ihr Zeitgefühl und lebt völlig unkoordiniert.

Wie bleibt man in diesem Spannungsfeld eine gute Mutter? Eine, die eigentlich die Abnabelung akzeptiert hat und nun doch wieder gebraucht, aber nicht erwünscht ist?

Arzt: Hören Sie Stimmen?
Patientin: Sie nicht?

Paula badet in einem regelrechten Gefühlschaos. Da ist Wut, weil sie Mojas Situation als leichtfertig weggeworfene Zukunft empfindet. Da ist Zuneigung, die sie automatisch wieder in die alte Mutterrolle schiebt. Da lebt das Gefühl von Versagen auf, weil sie sich eine Mitschuld an Mojas Zustand einredet. Da ist auch Scham, die Krankheit der Tochter zugeben zu müssen.

Paula zieht sich zurück und weiss gar nicht, ob soziale Kontakte Abhilfe schaffen oder die vermeintliche „Normalität“ der anderen den Druck erhöht.

Wohlwollender Umgang miteinander sollte selbstverständlich sein

Psychische Krankheiten sind in der Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert, obgleich sie keineswegs ungewöhnlich sind und -wie „Mojas Stimmen“ zeigt- Unterstützung statt Ausgrenzung brauchen.

Die Motivation für Loosli, dieses Buch zu schreiben, war ebenso Motivation für ihren Verlag, das Manuskript zu verlegen. „Uns sind neben literarischer Qualität auch gesellschaftlich relevante Themen wichtig,“ sagt Irène Bourquin vom Thurgauer Caracol Verlag. „Psychische Krankheiten sind ein solches Thema, belastend für die Kranken selbst wie für ihre Angehörigen. Die Gesellschaft weiss zu wenig über psychische Krankheiten, man schaut deswegen am liebsten weg.“

Verlag erteilte schnell die Zusage an die Autorin

Auch stilistisch vermochte Ruth Loosli den Verlag zu überzeugen. „In manchen Passagen, Wortfindungen, Bildern dieses Romans zeigt sich auch in der Prosa die Lyrikerin Ruth Loosli. Das hat uns gefallen,“ sagt Bourquin.

Man suche beim Lesen beispielsweise nach der Stelle, als Paula sich um Zigarettennachschub für die viel rauchende Moja kümmert und findet, es sei wie „Muttermilch. Abgepumpt und in stabile Tabakrollen gefüllt.“

Die Zusage an Loosli fiel schnell, erinnert sich die Autorin: „Ein fettes Ja erhielt ich bereits am Morgen nach meiner Manuskripteinsendung und das hatte mich sehr gefreut und ermutigt.“

„ver / irren“: Schreibbild aus dem Roman „Mojas Stimmen“. Bild: Ruth Loosli

Schreiben ist Nachdenken

Die Ratlosigkeit vieler Leute im Umgang mit Betroffenen, seien es Kranke oder Angehörige, zieht sich als Belastung wie ein roter Faden durch Looslis Buch. Nicht zuletzt schlägt sich das finanziell nieder. Moja wird die Unterstützung der Versicherung zu einem Zeitpunkt entzogen, als sie noch lange nicht wieder zurecht kommt.

Da fehlt spürbar die Geduld bei einer Krankheit, die wirklich Zeit kostet, in einer Gesellschaft, die am liebsten alle gesundheitlichen Sorgen gerne so schnell los wäre wie einen Schnupfen. Loosli verdeutlicht mit sparsamen Einsprengseln prominenter Ereignisse als loser Zeitleiste, dass es mit ein paar Wochen Klinik und Medikamenten nicht getan ist.

Zwischen Ratlosigkeit und Ablehnung

Wenn es nicht Ratlosigkeit ist, ist die Alternative oft Ablehnung: „Wer sollte dich denn einladen wollen, jetzt, wo du krank bist?“ wird Moja von ihrer einst besten Freundin düpiert.

Mit dem Buch möchte Loosli, die heute in Winterthur lebt und arbeitet, nicht nur andere zum Nachdenken anregen. „Ich kann mir kaum einen anderen Antrieb als ‚Nachdenken‘ für mein Schreiben vorstellen,“ findet sie. „Schreiben ist ein Versuch, die Welt durch Sprache zu erfahren und zu erfinden, Fragen zu stellen und mögliche Antworten zu formulieren.“

Wir Mütter befinden uns immer im Hochrisikobereich, sagt eine Freundin am Telefon.

 

„Das war eine spannende Arbeit auf Augenhöhe. Es gab in diesem Sinne keine ‚Kämpfe‘ um Passagen, die für mich unverzichtbar gewesen wären, sondern immer das Erkennen, dass etwas noch nicht ganz stimmen konnte.“

Ruth Loosli, Autorin

Als Lyrikerin hat Loosli bereits einige Werke veröffentlicht und plant einen nächsten Band. Ein Stil, den sie schon früh für sich entdeckt hat. Einen Roman zu schreiben, war daher Neuland und vor allem der Einstieg benötigte mehrere Fassungen, bis sich Loosli sicher war: Das ist es.

Am Ende lief es bei vielen Passagen auf Streichungen hinaus, was ihr als Lyrikerin nicht allzu schwer gefallen sein dürfte. „Es gab keine Forderungen vom Verlag, sondern Vorschläge und vor allem Rückfragen,“ erinnert sich die Autorin. „Das war eine spannende Arbeit auf Augenhöhe. Es gab in diesem Sinne keine ‚Kämpfe‘ um Passagen, die für mich unverzichtbar gewesen wären, sondern immer das Erkennen, dass etwas noch nicht ganz stimmen konnte, sei es sprachlicher oder inhaltlicher Art.“

Nur beim Ende ging es genau anders herum. „Die Lektorin bestand darauf, dass ich einen Schluss ausprobiere, den ich eigentlich streichen wollte,“ sagt Loosli. „Für diese Beharrlichkeit bin ich dankbar, denn der Schluss, der einen feinen Hoffnungsschimmer in sich trägt, gefällt mir nun ausgesprochen gut.“

In unserer Reihe #dasliterarischesolo hatte Ruth Loosli aus ihren Gedichten gelesen (30. April 2020)

thurgaukultur.ch · #dasliterarischesolo: Ruth Loosli liest aus eigenen Texten

Buch & Lesung

Das Buch: Ruth Loosli – Mojas Stimmen; ISBN 978-3-907296-05-9; 264 Seiten, gebunden; Caracol Verlag Warth, 2021.

 

Bild: Caracol Verlag, unter Verwendung einer Skulptur des Land Art-Künstlers Frank Hänecke

 

Ruth Loosli ist zu Gast bei Eselsohren live in Winterthur (27.11. im Café zum hinteren Hecht, Winterthur). Für das Winterthurer Kulturmagazin COUCOU schreibt sie regelmässig in der Rubrik „Eydu“ und für zwei fertige Bilderbuchgeschichten sucht die Autorin aktuell einen Verlag.

Die Reihe «Debüts - der erste Roman»

Donnerstag, 18. November, 20 Uhr

Alem Grabovac: Das achte Kind

Lesung & Gespräch im Kulturzentrum am Münster in Konstanz

Moderation: Gallus Frei-Tomic

 

Donnerstag, 25. November, ab 12 Uhr jederzeit abrufbar

Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Digitales Gespräch auf unserer Website www.thurgaukultur.ch

Moderation: Judith Zwick

 

Noich bis Dienstag, 23.November abrufbar: Hengameh Yaghoobifarah im Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Özkan Ezli über ihren Debütroman «Ministerium der Träume»

 

 

Details zu den einzelnen Terminen: https://judithzwick.de/debuets/

 

Weitere Texte zum Thema:

 

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Jedes Jahr erscheinen zahlreiche Romandebüts. Aber wie findet man den Stoff, der für ein Erstlingswerk taugt? Über das mühsame Geschäft von Verlagen in Zeiten der Krise.

 

Das erste Mal: Mit ihrem Debüt stellen sich Künstler:innen der Welt vor. Der Weg dahin ist lang und entbehrungsreich. Warum es sich trotzdem lohnt: Eine Geschichte über Leidenschaft, Hoffnung und Glück.

 

«Was wir erinnern, erinnert an uns»: Annina Haab hat einen berührenden Roman über das Loslassen geschrieben. Im Interview spricht sie über den Tod, das Erzählen, trügerische Erinnerungen und warum Literatur nie wahrhaftig sein kann.

 

Mehr Beiträge zum Thema „Debüts“ im dazu gehörigen Themendossier.

 

thurgaukultur.ch ist Kooperationspartner der Lesereihe. Wir begleiten die Veranstaltung im November mit weiteren Texten und Hintergründen zum Thema Debüt. Alle Beiträge der Serie sind im Themen-Dossier gebündelt.

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