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Wie ein Sonntagsspaziergang

Wie ein Sonntagsspaziergang
3 von 62: Die Thurgauer Birnbäume stehen im Fokus eines neuen Bildband der Frauenfelder Fotografin Simone Kappeler. | © Simone Kappeler

Durch Zeit und Raum: Simone Kappelers Bildband „Der Birnbaum“ verblüfft durch seine Vielfalt und ist eine Hommage an die Thurgauer Landschaft. Als es sich noch gab. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Statistische Daten sind das eine, das echte Leben manchmal aber doch etwas ganz anderes. Zwei Beispiele: Nur weil die Mehrheit der Bevölkerung morgens zwischen 6 und 7 Uhr aufsteht, muss sich das noch lange nicht jeden Morgen gut anfühlen. Und obwohl es statistisch erwiesen ist, dass ich eher vom Blitz getroffen werde als richtig viel Geld in einer Lotterie zu gewinnen, kann ich trotzdem ein Leben führen ohne vom Blitz getroffen und gleichzeitig komplett leer ausgehen bei jedem Glücksspiel.

Ein bisschen so ist das auch mit den Birnbäumen im Thurgau. Die offizielle Statistik des kantonalen Landwirtschaftsamts macht keinen Unterschied zwischen den mickrigen Niederstammanlagen und prächtigen Hochstammbäumen. Steht man im echten Leben sowohl vor dem einen wie vor dem anderen, dann merkt man sehr schnell, dass es da sehr wohl einen Unterschied gibt.

Grösse zählt manchmal eben doch

Insofern gut, dass wir das Leben nicht allein den Statisker:innen überlassen. Und noch besser, dass es Menschen wie Simone Kappeler gibt. In ihrem neuen Band „Der Birnbaum“ (erschienen im Saatgut Verlag) zeigt die Frauenfelder Fotografin und Thurgauer Kulturpreisträgerin sehr eindrücklich, dass Grösse manchmal eben doch zählt.

Rund 10.000 Birnbäume gebe es derzeit noch im Thurgau, schätzt Urs Müller, Leiter Obst Gemüse Beeren, am Bildungs- und Beratungszentrum (BBZ) Arenenberg auf Nachfrage von thurgaukultur.ch. Es waren mal sehr viel mehr. Seit den 1950er Jahren wurden hunderttausende Bäume gefällt - aus ökonomischen Gründen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die umliegenden Länder – vor allem Deutschland und Österreich – kein Geld, Schweizer Obst zu importieren und der Schweizer Inlandmarkt war gesättigt. Gleichzeitig entstanden in anderen Ländern Konkurrenzmärkte für Schweizer Tafelobst. „So verfiel man eben darauf, die Bäume zu fällen und das Problem auf diese brutale Art lösen zu wollen“, erklärte der Historiker Franco Ruault vor einigen Jahren gegenüber der Thurgauer Zeitung.

 

Aus Simone Kappelers Bildband «Der Birnbaum»: Ein Birnbaum in Ghürst, aufgenommen am 26.4.2015.

Brutale Baumfällungen veränderten die Landschaft

Die Folgen davon waren absehbar: „In den letzten 40 Jahren sind mehr als Dreiviertel der ursprünglichen, hochstämmigen Obstbäume, welche den Oberthurgau einst prägten, dem modernen Obstanbau zum Opfer gefallen“, schreibt der Verein Obstsortensammlung auf seiner Internetseite. Niederstammanlagen traten an die Stelle der Hochstämme damit die Ernte leichter und effizienter wurde. Das hatte natürlich Folgen für das Landschaftsbild.

Mit ihrem Fotoband erinnert Simone Kappeler nun an den Wert, den diese Bäume für die Region haben. Es ist eine fotografische Verbeugung vor der Schönheit der Natur. Um die 400 Birnbäume hat sie in den vergangenen Jahren zu verschiedenen Jahreszeiten auf ihren Streifzügen durch die Thurgauer Landschaft abgelichtet, 62 von ihnen haben es jetzt in den Bildband geschafft.

In die romantische Idylle mischen sich bewusste Störungen

Den Ton setzt die Fotografin mit einem Einleitungstext von Johann Gottfried Ebel aus dem Jahr 1798. Darin beschreibt Ebel landschaftliche Eindrücke seiner Reise von Konstanz nach Arbon: „Die Sonne senkte sich schon an den Abendhimmel, und goss über die Ufer, die Dörfer, Städte, Berge und Felsen gegen Osten ein Farbenspiel aus, dessen Glanz über den weiten, krystallnen, grünen See mich in Erstaunen setzte. Die Luft war mild und still; kein Blättchen regte sich über mir. Die ganze Natur lag in einer süssen Ruhe, in der seeligen Ruhe der lebendigsten glücklichsten Existenz.“

Das beschwört das romantische Bild einer intakten Natur in die der Mensch eindringt und sie zu seinen Zwecken verändert. Die darauf folgende Fotoserie verstärkt diese Stimmung zunächst und doch gibt es hier und dann Einbrüche in diese Idylle: Kahle Äste und ausgemergelt scheinende Bäume. Fast am Ende des Bildbands findet sich auch ein zersägter Baum, die Äste liegen am Boden. Es wirkt wie ein Mahnmal gegen die Versündigung an der Natur. Oder ist es doch einfach nur der Lauf der Dinge?

 

Aus Simone Kappelers Bildband «Der Birnbaum»: Ein Birnbaum in Steinegg, 3.5.2013

Fotografie mit poetischer Klangspur

Blättert man durch den Bildband, dann verblüfft jedoch vor allem die Vielfalt: Es gibt hohe, breite, vom Wind zerzauste, kräftige und zarte Exemplare. Manche scheinen ihr Blätterkleid verkehrt herum zu tragen, andere scheinen ihre Äste aufs Maximale in die Luft zu strecken, einige scheinen zu lachen, andere zu trauern. Erstaunlich, wie viel man in diese poetischen Schwarz-Weiss-Aufnahmen (hinein) lesen kann.

Begann der Bildband mit den Schilderungen Johann Gottfried Ebels, endet er mit Versen von Simone Kappeler. Man kann sie als Klangspur zu den Fotografien verstehen. „Die Luft glasklar und doch kein leerer Raum, sie ist körperhaft durch tausend Bienen, die sie durchweben. Leises Singen von den Flügeln; ein heller Ton im Baum, auf immergleicher Höhe endlos neu erzeugt: der Summton. Mit ihm zieht sich die Krone hinab, unter einer Glocke aus Duft und Klang.“

Die Bilder im Kopf, der Klang dieser Worte in den Ohren: Wer fühlte sich da nicht, wie unter einem prächtigen Birnbaum liegend, versunken in blühender Landschaft? So wird „Der Birnbaum“ nicht nur zu einem Buch für Naturliebhaber und Foto-Ästheten. Sondern auch eines für all jene, die eine kurze Flucht aus dem Alltagswahnsinn brauchen. Um gedanklich unter einem Birnbaum zu entspannen.

 

Aus Simone Kappelers Bildband «Der Birnbaum»: Ein Birnbaum in Löwenhaus, aufgenommen am 21.10.2013.

 

Der Bildband & die Fotografin

Simone Kappeler wurde 1952 in Frauenfeld geboren. Sie studierte von 1972 bis 1976 Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich und von 1975 bis 1979 an der Fachklasse für Fotografie der Schule für Gestaltung in Zürich. Sie lebt und arbeitet in Frauenfeld und unterwegs. Ihre Werke finden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen wie etwa der Fotostiftung Schweiz, dem Kunstmuseum Thurgau, der UBS Art Collection und der Collection Neuflize Vie, Paris. Simone Kappeler wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kulturpreis des Kantons Thurgau 2021, dem Konstanzer Kunstpreis oder dem Eidgenössischen Stipendium für angewandte Kunst.

 

Simone Kappeler: «Der Birnbaum»
Mit Texten von Johann Gottfried Ebel und Simone Kappeler
144 Seiten, 62 Duplex-Abbildungen, Fadenheftung, Hardcover
Format: 21 x 28 cm
Verlag Saatgut, Frauenfeld, August 2022  
Preis: CHF 49.00  
Sonderausgabe mit signiertem Print CHF 300.– hier erhältlich.
 ISBN 978-3-9525244-5-9

 

Das Buch ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich. 

 

 

 

 

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