von Kathrin Zellweger (1948-2019), 19.06.2013
„Mode ist brutal und befreiend“

Stoffe leicht wie Seifenblasen, schwer und opulent wie venezianische Lüster, sinnlich wie die menschliche Haut … Der Thurgauer Martin Leuthold, Creative Director bei der Firma Jakob Schlaepfer, macht es möglich, dass bei ihm in St. Gallen jede nur denkbare Extravaganz bestellt werden kann. Die Eidgenossenschaft hat ihm im April dafür den Grand Prix Design 2013 verliehen.
Kathrin Zellweger
So stellt man sich den Ort nicht vor, wo Textilien für Dior, Chanel, Westwood und wie sie alle heissen, entworfen werden. Im Vorraum zum Büro des Creative Directors hängen an zwei langen Stangen die Stoffmuster an Fleischerhaken. Eng und ohne ersichtliche Ordnung, als ob es Ausschussware wäre. Ein schwerer Möbelstoff aus Seide und Baumwolle verdeckt ein Nichts aus Polyester; hineingewobene oder gedruckte Ornamente konkurrieren mit applizierten Dekorationen aus Metall, Schaumstoff, Straussenfedern und Swarowski-Steinen; die Muster sind mal schrill-bunt und dann wieder schillernd wie eine Seifenblase. Je kühner man in diese Stofffülle greift und Stück für Stück herauszupft, umso grösser wird das optische und haptische Vergnügen. Der Mann, der für diese Welt aus Kreativität steht, heisst Martin Leuthold.
Überraschung zum 60. Geburtstag
Es war vielleicht nicht das überraschendste Geschenk zu seinem 60. Geburtstag, aber sicher das ehrenvollste: Im April, kurz nach seinem rauschenden Fest unter dem Titel „Un Ballo in Maschera“, erhielt Martin Leuthold Post vom Bundesamt für Kultur. „Wir arbeiten nicht für Preise, obwohl wir schon mehrere gewonnen haben. Doch diesmal ging es nicht um die Firma, sondern um mich, was mir eine grosse Freude und Genugtuung ist. Damit werden wir auch als Arbeitgeber und Nachwuchsförderer ausgezeichnet und dass wir dem Standort St.Gallen die Treue halten.“ Jakob Schlaepfer, wie die Firma immer noch heisst, beweist damit, dass man auch in der teuren Schweiz mit hochwertigen Produkten überleben kann. „Mir ist St.Gallen viel lieber als Paris.“
„Wir überlisten das Herkömmliche“
Die 800 Jahre alte Ostschweizer Stickereitradition beschreibt Leuthold geradezu hymnisch, obwohl er betont, dass die Tradition allein das Überleben nicht sichern kann. „Mit den Genen, die nach wie vor in dieser Stadt sind, arbeiten wir weiter. Dafür müssen wir die alten Techniken loslassen können, weil diese andernorts weniger kosten. Wir verzichten nicht auf die Stickerei, aber wir überlisten das Herkömmliche, mit Innovation, beispielsweise mit dem Digitaldruck oder der neuesten Lasertechnik, die nicht mehr schneidet, sondern die Oberfläche graviert.“ In St.Gallen seien Dinge möglich, die andernorts undenkbar wären. Den Grund dafür sieht Martin Leuthold auch im Föderalismus, der diesem Land einen Überfluss an lokaler und internationaler Kultur ermöglicht. „So was ist einzigartig auf der Welt.“
Inspiration aus dem thurgauischen Garten
Inspiration holt sich Leuthold in der Natur wegen des Goldenen Schnitts sowie ihrer Farbenkombinationen und Formen. Für den Creativ Director ist Natur nichts Unbestimmtes, das es irgendwo ausserhalb der eigenen vier Wände gibt. Natur ist für ihn Synonym für seinen grossen Garten rund um sein Zuhause, das er in vierter Generation seit 18 Jahren bewohnt. Noch auf thurgauischem Boden, aber hart an der Grenze zum Nachbarkanton liegt es im Weiler Hegi bei Winden. Die botanische Fülle und Vielfalt sind ihm Quelle der Erholung und der Inspiration. „Die Natur wird nicht etwa kopiert; sie wird neu interpretiert. Denn es gibt nichts, was nicht schon mal da war.“
Stoffe und Mode sind Spiegel eines Lebensstils, einmal haben sie mehr mit Verkleiden, ein anderes Mal mehr mit Einkleiden zu tun. Welche von den 250 Stoffen, die Leuthold vierteljährlich den grossen Modeschöpfern vorlegt, tatsächlich Gefallen finden, weiss er im voraus nicht. Nicht einmal bei seinen 90 besten Kunden. Modemachen sei wie das Stehen am Abgrund, erklärte er einmal, „weil wir uns immer wieder selbst erfinden müssen“.
Die Angst vor dem Abgrund
In den vierzig Jahren, die er nun in dieser Branche arbeitet, hat er nicht nur gelernt mit dieser Angst vor dem Abgrund zu leben; er braucht sie sogar. „Mode ist brutal und befreiend.“ Zwei Mal im Jahr schieben sich gertenschlanke Mannequins über Laufstege; das Publikum haucht Ah und Oh über das Abendkleid von Lagerfeld und den Mantel von Louis Vuitton – und niemand nennt den Namen von Martin Leuthold, der mit seinen Stoffen diese Kreationen erst möglich gemacht hat. „Wer‘s wissen muss, kennt mich. Nicht in der Öffentlichkeit zu stehen, gibt Freiheit. Ich muss nicht für einige wenige arbeiten und ihrem Diktat folgen; ich kann für alle Modeschöpfer der Welt da sein.“ Die Kreationen, die aus den Schlaepfer’schen Stoffen hergestellt werden, haben ihren Markt nur zu einem winzigen Teil in der Schweiz. „Niemand, der bei uns arbeitet, kann sich diese Stoffe leisten.“
„Be amazing“
In Leutholds Zuhause in Hegi/Winden hängt ein Werk der Schweizer Objekt- und Performancekünstlerin Sylvie Fleury, das sie ihm zum Geschenk gemacht hat. Dessen Titel: „Be amazing“. Der Titel passt in vielerlei Hinsicht zum Creative Director, weil es nicht nur sein Berufsverständnis auf den kürzesten Nenner bringt, sondern irgendwie auch seine Person. „‚Amazing‘ heisst für mich aussergewöhnlich. Genauso müssen unsere Arbeit und unsere Kreationen sein. Mode muss überraschen, wenn man bedenkt, dass, was heute bestaunt, morgen ein Déjà-vu ist. Mode ist Trend. Ein Stoff kann Geschichte schreiben, wenn er verarbeitet zur Schönheit einer Person und eines Anlasses beiträgt, der in die Geschichte eingeht. Das sind die seltenen Fällen, bei denen man vielleicht von so etwas wie einem Gesamtkunstwerk reden kann.“
***
Martin Leuthold, 1953, ausgebildeter Stickereientwerfer, kam vor 40 Jahren zur Firma Jakob Schlaepfer, St.Gallen, dem weltweit führenden Hersteller von Stoffen für Haute Couture und Prêt-à-porter. Seit 1989 ist er Mitglieder der Geschäftsleitung und dort verantwortlich für die Sparte Kreationen. In der Firma werden unter laborähnlichen Bedingungen und vor allem dank der fast süchtigen Suche des Creative Directors Leuthold Stoffe in schier jedem Material hergestellt, die für Kleider im Luxussegment verabeitet werden. Für sein Schaffen hat er dieses Jahr den Grand Prix Design bekommen. Martin Leuthold lebt mit seinem Partner im thurgauischen Hegi/Winden.
Grand Prix Design: Seit 2007 verleiht das Bundesamt für Kultur den Grand Prix Design. Martin Leuthold ist einer von vier ausgezeichneten Personen. Er sei, so heisst es in der Begründung, eine der Schlüsselfiguren der schweizerischen Textilindustrie, die zum hohen Ansehen des Schweizer Designs auf internationaler Ebene beigetragen habe. Leuthold verstehe es, Nachwuchsförderung, Innovationskraft und internationales Renommee unter einen Hut zu bringen.

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