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von Andrin Uetz, 06.12.2021

Pop und Poesie im Schulhaus

Pop und Poesie im Schulhaus
Heimelig mit Biss: Simon Hotz im historischen Schulzimmer. | © Rolf Loeber

Regionalen Kulturschaffenden trotz Pandemie sichere Auftritte ermöglichen - das ist die Idee hinter der Reihe «Störkultur» in Amriswil. Jetzt gastierte das Format im Schulmuseum Mühlebach. (Lesedauer: 3 Minuten)

Die Veranstaltungsreihe «Störkultur» der Kulturkommission Amriswil läuft gerade in der zweiten Runde. In diesem Jahr übernimmt der Schlagzeuger Silvan Scheiwilier die Projektleitung. Entsprechend musikalisch ist das Programm. Das Prinzip von Störkultur ist es, regionalen Kulturschaffenden an verschiedenen Orten trotz der Pandemie im sicheren Rahmen Auftrittsmöglichkeiten zu beschaffen.

Die Schulräume bespielen

Auf dem Programm stand ein Hybrid aus Museumsführung und Konzertabend. Das Publikum wurde zuerst gebeten im historischen Schulzimmer im ersten Stockwerk des alten Lehmbaus Platz zu nehmen.

Gerade in Zeiten des Abstands ist es schwer zu glauben, dass in dem Zimmer mit Kachelofen und hölzernen Schulbänken früher bis zu achtzig Kinder Platz fanden. Ob die Lehrer und Lehrerinnen hier während dem Unterricht im Winter ab und an noch etwas Holz nachlegen mussten im Ofen?

Mit dem Rad von Kreisler zu Eisler und Grönemeyer

Den Abend eröffnete der St. Galler Liedermacher Simon Hotz mit einer charmanten Hymne auf das Fahrrad, wobei er passend zu den sperrigen Schulbänken auf den Tasten des E-Pianos ratterte. Auch im zweiten Stück war etwas Konsumkritik auszumachen, wenn er vom Stelzenlaufen singt, und dann davon, dass es immer auch Leute braucht, die unten sind, und nicht alle auf hohen Stelzen gehen können.

Da trifft im besten Moment der Aberwitz eines Georg Kreislers auf die politische Dringlichkeit eines Hanns Eisler. Auch romantischere Töne sind zu vernehmen, doch da verbirgt sich Hotz, wohl seinem jungen Alter geschuldet, noch etwas hinter einer schützenden Ironie, noch nicht weise genug, sich wie ein Herbert Grönemeyer oder ein Udo Jürgens ganz der Sinnlich- und Befindlichkeit hinzugeben.

Video: Simon Hotz mit «Das Fahrrad» am Klimastreik 2019 in St. Gallen.

Ein Stück Thurgauer Frauengeschichte

Nach wohlverdientem Applaus führte die Museumsleiterin Frauke Dammert die Besuchenden in eine der zwei Lehrer:innen-Wohnungen, welche sich im Erdgeschoss des Gebäudes befinden. In einer Küche mit blau-weissem Plattenboden und einem Holzherd, alles noch Original aus den 1920er Jahren, erzählt sie die eindrückliche Geschichte von Aline Brauchli.

Als eine der ersten Absolventinnen des Kreuzlinger Lehrerseminars lebte sie von 1920 bis in die späten 1980er Jahre in der bescheidenen Wohnung, und unterrichtete bis zur Pensionierung im Schulhaus Mühlebach, was unter anderem an ein striktes Zölibatismus-Gebot gebunden war. (Der Urgrossvater des Autors hat übrigens an der gleichen Schule unterrichtet. Hätte dieses Gebot auch für Lehrer gegolten, wäre er nicht Urgrossvater geworden.)

Glühwein, Halbstarke und geschlagene Beat-Poeten

Die kurze Führung machte durchaus Lust auf mehr, und es klingt vielversprechend, was mit der Aufarbeitung des Nachlasses von Aline Brauchli noch an Zeitzeugnissen der Thurgauer Frauengeschichte ans Licht kommen dürfte.

Doch der Abend war ja hauptsächlich als Konzertveranstaltung angesagt, und so ging es nach einer kurzen Verpflegung mit Glühwein und Mandarinen weiter mit einer musikalischen Lesung von “Pesthauch & Blütenduft”, benannt nach der deutschen Übersetzung eines Buches des französischen Historikers Alain Corbin.

“Pesthauch und Blütenduft” gehen aufs Ganze. Bild: Rolf Loeber

Ein Abend, der mehr Publikum verdient gehabt hätte

Dabei erzählte Martin Weyer die Geschichte des Alexander Bärenstarck, einem leicht manischen Halbstarken, der aber auch etwas in die Jahre gekommen zu sein scheint, und der wie ein Verschwörungstheoretiker alles auf sich selbst bezieht und somit natürlich allmählich an sich selbst und der Welt verzweifelt.

Begleitet wird Weyer von den Saxophonisten Hugo Niederberger (Sopran) und Egon Rietmann (Bariton), die sich an der amerikanischen Beat-Literatur sowie an Jörg Fauser oder Rolf Dieter Brinkmann orientierende Prosa passend mit Jazz-Elementen untermalen. Neben lautmalerischem Mickey-Mousing erklingen Nummern wie “Love for Sale” von Cole Porter oder “Moanin’” von Charles Mingus.
Alles in allem ein gelungener Abend, der durchaus etwas mehr Publikum verdient hätte.

“Pesthauch und Blütenduft” im Schulmuseum. Foto: Rolf Loeber.

 

Mehr Störkultur

Weitere Termine der Veranstaltungsreihe Störkultur:

 

Donnerstag, 16. Dezember, ab 17 Uhr, Konzertbeginn um 18.30 Uhr
Incredible Voices mit Andy Mc Sean & Belinda del Porto & Fabe Vega
La Locanda

 

Donnerstag, 16. Dezember, Eislaufen ab 13.30 Uhr, Konzertbeginn um 20.15 Uhr
Incredible Voices mit Andy Mc Sean & Belinda del Porto & Fabe Vega
Amriswil on Ice

 

Donnerstag, 13. Januar, Führungen um 18.30 und 19.45 Uhr
Soundz Fantastic! Mit Steinwey & Padma Music
Wasserschloss Hagenwil

 

Donnerstag, 27. Januar, ab 19 Uhr, Crashkurs 19.30 Uhr, Konzertbeginn um 20.30 Uhr
Dance Fever mit Coniglio Connection - inkl. Lindy Hop / Swing Crashkurs
Kulturforum Amriswil

 

Die gesamte Übersicht gibt es hier: https://www.amriswil.ch/stoerkultur

 

 

 

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