Seite vorlesen

von Andrin Uetz, 28.03.2024

Zu Unrecht fast vergessen

Zu Unrecht fast vergessen
Simone Keller und Abathar Kmash spielen unter anderem Musik der Sängerin Fairuz, welche von Philip Bartels arrangiert wurde. | © Andrin Uetz

Am Sonntagabend fand im Rathaus Weinfelden die Buchvernissage von «Hidden Heartache» statt. Das Buch ist im Rahmen der Reihe «Facetten» der Kulturstiftung des Kantons Thurgau entstanden. thurgaukultur.ch war dabei und durfte sich ein Exemplar mit nach Hause nehmen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Eine Buchvernissage könnte – bis auf den obligatorischen Apéro – eine ziemlich trockene Veranstaltung sein. Ein paar Grussworte und eine Danksagung, ein Gespräch zwischen Autor:in und Verleger:in, etwas Moderation, dazu ein-zwei Abschnitte mit einer Lesung.

Wenn aber Simone Keller auf der Bühne steht, so sieht die Welt anders aus. Sie kann nicht nur als Pianistin den Saal für sich und ihre Kunst begeistern, sondern sie steht auch als Persönlichkeit für ihre Projekte ein. Und Begeisterung ist ansteckend.

Advokatin für unterrepräsentierte Musik: Simone Keller begrüsst den vollen Rathaussaal. Foto: Andrin Uetz

Nicht nur Musik von weissen Männern, die bereits gestorben sind 

Geladen wurde im schmucken und repräsentativen Rathaussaal zum «Konzert und Vortrag», und Simone Keller betonte in ihrer kurzen Begrüssungsrede, dass sie zwar sehr gerne Musik von «weissen Männer spiele, die bereits gestorben sind», es aber jenseits dieses gängigen klassischen Repertoires sehr viel mehr zu entdecken gibt. Genau darum geht es beim Projekt «Hidden Heartache», welches neben der Buchpublikation auch eine gleichnamige CD (Intakt Records) sowie die «Hidden Tour» beinhaltet mit Konzerten an verschiedenen Orten: Anlässlich des 100 Geburtstags der afroamerikanischen Komponistin Julia Amanda Perry (1925–1979) hat Simone Keller 100 Minuten Musik von Musiker:innen aufgenommen, welche im Kontext von «100 Jahren gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnissen» bisher zu kurz kam.

Spätromantik vom Bodensee

Im Rathaus Weinfelden konnte das Publikum so unter anderem die Musik von Olga Diener (1890–1963) kennenlernen. Die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler führte mit einem Vortrag in das Leben und Werk dieser nur marginal wahrgenommenen Komponistin und Schriftstellerin aus St. Gallen, welche längere Zeit in Altnau gelebt hat, ein. Simone Keller spielte drei ihrer Kompositionen, welche etwas an den spätromantischen Salon-Stil von Alexander Skrjabin, aber auch Elemente des Impressionismus von Erik Satie denken lassen. Aus heutiger Perspektive ist die Frage berechtigt, warum damalige Gatekeeper wie Hermann Hesse – mit dem Olga Diener befreundet war – ihren Schreib- und Komponierstil als zu «verträumt» abgetan haben, wo hingegen ihre männlichen Kollegen als grosse Mystiker gefeiert wurden?

Die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler bringt dem Publikum das Leben und Werk von Olga Diener näher. Foto: Andrin Uetz.

Klasse Musik statt Scheuklappen-Klassik 

Lässt sich die Musik von Olga Diener noch relativ klar in einen Musikbereich zuordnen, der in Europa als «Klassik» zusammengefasst wird, so wird die Musik, welche der syrische Musiker Abathar Kmash (*1987) mit seiner Oud vortrug, hierzulande gerne als orientalische Musik oder unter dem Label der «Weltmusik» vermarktet. In Damaskus, wo Kmash studiert und bis 2015 in verschiedene Orchestern und Formationen mitgewirkt hat, dürfte seine Musik gleichwohl als klassische Musik rezipiert werden. Erfreulicherweise unterstreicht «Hidden Hearthache» diese Mehrperspektivität, in dem verschiedene Stile und Kompositionen in gleichwertiger Weise in einen Dialog gesetzt werden. So spielen Abathar Kmash und Simone Keller im Duo unter anderem auch Arrangements von Songs der libanesischen Sängerin Fairuz.

Ein mehrsprachiges Kunstbuch mit Noten und Essays

Abgerundet wurde der Abend dann durch einen von der Kulturstiftung Thurgau offerierten Apéro. Auf einem Büchertisch gab es zudem die neue Publikation zu erwerben. Facetten #21 wurde in Zusammenarbeit mit dem St. Galler Kunstverlag Jungle Books publiziert und ist von grosszügigem Umfang und Inhalt. In der Mitte des Buchs findet sich eine herausnehmbare Einlage mit Noten von je einer Komposition von Irene Higginbotham, Olga Diener, Julia Amanda Perry und Cristina Janett. Darüber hinaus besteht das Buch aus einer Sammlung von Essays und Texten, welche sich teils auf die Kompositionen beziehen und/oder ganz allgemein als Stimmen gegen soziale- und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse gelesen werden können. Dabei fällt auch die schöne typografische Gestaltung und die Mehrsprachigkeit (Englisch und Deutsch) ins Auge.

Das Buch ist erhältlich auf jungle-books.com. Die CD kann auf intaktrec.ch bestellt werden.

 

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Musik

Kommt vor in diesen Interessen

  • Bericht
  • Klassik

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

#Kultursplitter - Agenda-Tipps aus dem Kulturpool

Auswärts unterwegs im April/Mai - kuratierte Agenda-Tipps aus Basel, Bern, Liechtenstein, St.Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und dem Aargau.

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Kulturplatz-Einträge

Autor:in tgk, Kulturschaffende

Simone Keller

8050 Zürich

Ähnliche Beiträge

Musik

Musikalische Horizonterweiterung

Das grenzüberschreitenden Orchester Divertimento widmet sich bei seinen Frühjahrs-Konzerten in Kreuzlingen und Konstanz bewusst aussereuropäischen Werken. mehr

Musik

Dem Alltag entfliehen

Mit bekannten Namen und literarischen Experimenten: Das Jahresprogramm des Klosters Fischingen bietet Raum für Entdeckungen. mehr

Musik

Eine Passion für alle

Warum berührt uns Bachs Johannespassion noch heute? Christian Bielefeldt, künstlerischer Leiter und Dirigent des Oratorienchor Kreuzlingen, über Bachs dramatisches Geschick und seine Klangsprache. mehr