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Alltag in der Ukraine

Alltag in der Ukraine
Aus der Serie «Giant» des ukrainischen Künstlers Artem Humilevskiy, die während der Pandemie entstanden ist. | © Artem Humilevskiy

Der Krieg und die Kunst: Die Ausstellung „Umso stärker schlägt mein Herz“ versammelt im Kunstraum Kreuzlingen zeitgenössische ukrainische Kunst - vor und nach dem russischen Angriff. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

„Eigentlich“, so sagt es die Journalistin Kateryna Voropai, „unterscheidet sich unser Leben nicht so sehr von eurem. Wir gehen aus, feiern, lieben, leben, arbeiten, ganz normaler Alltag eben.“

Nur ist in Katerynas Heimat gerade nichts normal. Seit dem Russland die Ukraine überfallen hat und dem Land einen irrsinnigen Krieg aufzwingt, kann man sich die Ukraine fast nicht nicht im Kontext von Panzern, zerschossenen Häusern, zerstörten Hoffnungen und vielen Toten vorstellen.

Vielleicht gerade deswegen will die neue Ausstellung „Umso stärker schlägt mein Herz“ im Kunstraum Kreuzlingen auch daran erinnern, dass die Ukraine mal ein ganz normales Land war, in dem ganz normale Dinge passierten und die Menschen ihrem ganz banalen Alltag nachgingen.

„Niemand soll das erleiden müssen, was mein Land gerade erleiden muss, niemand muss das fühlen können.“

Kateryna Voropai, Kuratorin & Journalistin

„Viele Menschen fragen mich gerade, wie ich mich fühle, aber eigentlich will ich darüber gar nicht reden, weil ich dieses schreckliche Gefühl nicht überhand gewinnen lassen will. Niemand soll das erleiden müssen, was mein Land gerade erleiden muss, niemand muss das fühlen können. Viel wichtiger finde ich zu zeigen, dass die Ukraine ein Land ist, dass sich eigentlich gar nicht so sehr von westlichen Ländern unterscheidet“, erklärt Voropai.

Aber so einfach ist das natürlich nicht. Wer über die Ukraine heute spricht, kann den Krieg nicht verschweigen. Die Ausstellung, die Voropai gemeinsam mit Kateryna Radchenko, Gründungsdirektorin der Odesa Photo Days, kuratiert hat, findet aber einen klugen Umgang damit.

Im oberen Saal zeigt sie zeitgenössische ukrainische Kunst, die universelle Themen wie Identität und Heimat behandelt und im Tiefparterre zeigen die beiden Kuratorinnen Arbeiten, die während des Krieges in Bunkern und anderen Zufluchtsorten entstanden sind.

 

Rechts: Kuratorin Kateryna Voropai bei der Hängung der Ausstellung mit einer freiwilligen Helferin. Links: Die Arbeiten «Empfindsamkeit» von Andrii Boiko. Bild: Michael Lünstroth

Wofür wir kämpfen

Kateryna Voropai bringt das Ausstellungskonzept auf die Formel: „Oben zeigen wir, wofür wir unten kämpfen müssen.“ Und das ist dann so ein Moment, in dem man als Journalist in der sicheren Schweiz doch mal schwer schlucken muss. Weil es einem sehr konkret vor Augen führt, worum es hier eigentlich gerade geht.

Die Kuratorin und Journalistin Voropai ist selbst im März aus Kyiw nach Kreuzlingen geflohen. Gemeinsam mit ihren schwer kranken Grosseltern lebt die Journalistin nun in der kleinen Thurgauer Grenzgemeinde und engagiert sich in der dort stetig wachsenden ukrainischen Community. Sie hilft beim Ankommen, bei der Wohnungssuche, beim Ausfüllen von Anträgen. Und jetzt eben diese Ausstellung.

Der Krieg hat das Land in zwei Hälften geteilt: Ein Davor und ein Danach

Zu sehen sind dort zum Beispiel Illustrationen von Sergiy Maidukov. Er ist einer der bekanntesten Illustratoren der Ukraine, hat für „The New Yorker“ gearbeitet, für das deutsche „Zeitmagazin“ zeichnet er seit Kriegsbeginn ein „Tagebuch aus Kyiw“. Auf Instagram teilt er seine Perspektive mit mehr als 22’000 Follower:innen.

Maidukov lebt nach wie vor in der ukrainischen Hauptstadt - als einziger seiner Familie. Warum er geblieben ist, hat er im Interview mit dem Zeitmagazin so erklärt: «Erstens, weil ich Kyiw liebe, und zweitens weil ich Widerstand leisten will», so der Illustrator. «Ich würde alles dafür geben, in einer freien und demokratischen Ukraine zu leben - alles, ausser mein Leben.»

Die Kreuzlinger Ausstellung zeigt im oberen Saal beinahe idyllische Stadtansichten, im Tiefparterre dominieren Panzer, Soldaten und Barrikaden die Arbeiten von Maidukov. Sie zeigen exemplarisch: Der Krieg teilt die Stadt in zwei Hälften. In ein Davor und ein Danach.

Das Davor feiert der Fotograf Andrii Boiko mit seiner Serie „Empfindsamkeit“. Zwischen 2014 und 2021 hat er die ukrainische Rave- und Party-Szene in ekstatischen wie intimen Momenten dokumentiert. Dmytro Kupriian verlässt mit seiner Arbeit „36 Aussichten vom Berg Hoverla“ die Urbanität und zeigt den höchsten ukrainischen Gipfel auf verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Kontexten.

 

Foto-Serie von Andrii Boiko «Empfindsamkeit» (2014-2021). 

 

Vor der Eröffnung: Dmytro Kupriian aus der Serie 36 Aussichten vom Berg Hoverla 2017-2020. Bild: Michael Lünstroth

Dumpfes Dröhnen und Sirenen im Tiefparterre

Und dann sind da noch EtchingRoom1, die in ihren Radierungen hinter die Gardinen ukrainischer Wohnungen blicken und Roman Pashkovskiy, der in seiner Reihe „Photo Atelier“ dem Durchschnitts-Ukrainer ein Denkmal setzen möchte und sich so subtil mit der Frage von Identitäten auseinandersetzt: Wer bin ich, wenn ich aussehe wie alle anderen?

Der Krieg hat nun all diese Fragen nicht grundsätzlich irrelevant werden lassen, aber er überlagert sie alle. Diese Gemengelage vermittelt die Ausstellung eindrücklich wie geschickt, weil die Besucher:innen mit den Bildern der feiernden ukrainischen Jugendlichen im Kopf in das Tiefparterre geschickt werden.

 

Radierungen von EtchingRoom1. Bilder: Michael Lünstroth

 

Dort erwartet sie erst dumpfes Dröhnen explodierender Bomben und dann Sirenenalarm. In Dauerschleife. Auf einem Bildschirm flimmern dazu Aufnahmen des spanischen Fotografen Albert Lores, der seit vielen Jahren in der Ukraine lebt und aktuell im schwer umkämpften Donbass unterwegs ist.

Man erträgt es kaum und schämt sich

Man sieht in die Gesichter der jungen ukrainischen Soldaten, sieht ihre Angst und ihre Müdigkeit. Sie wechseln ab mit Fotos von zerstörten Häusern, traumatisierten Kindern und erschöpften Feuerwehrmännern.

Das alles ist schwer zu ertragen, weil einem die Gegenwärtigkeit dieses sinnlosen Krieges so bewusst wird. Die beklemmende Wirkung wird durch den Ort - ein Kellerraum, wie es einer in der Ukraine sein könnte - noch verstärkt.

Und gleichzeitig schämt man sich für diese verzärtelte Reaktion. Denn: Während wir diese Bilder nur betrachten, sterben in der Ukraine ja tatsächlich jeden verdammten Tag Menschen, werden Leben und Hoffnungen zerstört und das alles nur, weil ein grössenwahnsinniger Diktator das so will. Es ist unfassbar.

Videoschleife: Albert Lores im Krieggebiet

 

Obwohl wir all das seit mehr als vier Monaten so oder ähnlich in den Nachrichtensendungen sehen können, packen einen die Fotografien von Albert Lores auf eine ganz unmittelbare Weise. Es sind Menschen wie du und ich, die da gerade alles verlieren.

Daneben wirken die Illustrationen von Anna Savira und Tasha Levytska fast wie ein stiller Protest. Dabei sind auch sie auf ihre ganz eigene Weise eindrücklich. Savira hat ihre Szenen auch für einen Comic des Museum of Modern Art (MoMA) gezeichnet.

 

Objekte sind näher als sie scheinen: Illustration von Tasha Levytska aus dem März 2022

 

Anna Sarvira aus dem Comic fürs MoMa Der Plan 12. Februar 2022. Bild: Anna Sarvira

Hoffen entgegen jede Hoffnung

Der Titel der Ausstellung - „Umso stärker schlägt mein Herz” - entstammt übrigens einem Gedicht der ukrainischen Dichterin Lesya Ukrainka von 1890: Es heisst „Entgegen jeder Hoffnung hoffe ich”. „Über die Jahrhunderte hinweg bringt dieses Gedicht die Widerstandskraft der ukrainischen Bevölkerung zum Ausdruck; eine Bevölkerung, die sich auch angesichts einer erdrückenden Übermacht weigert, in Hoffnungslosigkeit, Passivität und Gleichgültigkeit zu verfallen, sondern stets neue Hoffnung schöpft“, schreiben die Kuratorinnen in ihre Medienmitteilung.

Diese zarte Hoffnung konzentriert sich vor allem in einer Arbeit der vielleicht bekanntesten ukrainischen Künstlerinnen. Alevtina Kakhidze ist mit einer Zeichnung vertreten, die eine Frau beim Setzen neuer Pflanzen zeigt.

Dazu geschrieben ein Zitat des ermordeten amerikanischen Hip-Hop-Stars Tupac Shakur: „Ich sage nicht, dass ich die Welt verändern werde, aber ich garantiere, dass ich den Funken entfache, der die Welt verändern wird.“

 

Die Ausstellung

Geöffnet bis zum 14. August: Mo – Do 14 – 20 Uhr, Fr 15 – 20 Uhr, Sa + So 13 – 17 Uhr. Eintritt frei, es werden aber Spenden zur Unterstützung von Hilfsorganisationen in der Ukraine gesammelt.

 

 

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