von János Stefan Buchwardt, 08.08.2023
Am Rand der Welt
Christian Lippuner rang zeitlebens um Anerkennung für sein Werk. Er wollte die Welt zu einem besseren Ort machen. Nachruf auf einen Künstler, der stets zwischen Poesie und Realismus wandelte. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Es mag ungewöhnlich sein, Christian Lippuner (20. Juli 1947 bis 18. Juli 2023) für einmal auch über die Titelgebung zu seinen Werken verstehen zu wollen. Gleichwohl drängt es sich förmlich auf, damit ein ausgeweitetes posthumes Verständnis seiner Person und seines Œuvres anzustossen. Nachträglich, nachrufend deshalb, weil er zwei Tage vor seinem 76. Geburtstag von der Bühne des Lebens abgetreten ist.
Denken wir die Mischung aus Verschwommenheit und Prägnanz, die sich in den «Namensgebungen» zeigt, also gewichtiger mit. Das sei dem Umstand geschuldet, dass Lippuner über jeden dieser Titel zusehends länger sinnierte. Mit wenigen nahen Weggefährten rang er bisweilen um Nuancierungen. Hingegen hielt er sich bei den eigentlichen künstlerischen Ausformungen seiner Werke mit apodiktischer Bestimmtheit und gutem Recht autark.
Leidenschaft und Leidensspur
Aus seinem jahrzehntelangen Leidensweg heraus, der von Krebs bis zu entzündlichen Veränderungen des peripheren Nervensystems reichte, schöpfte Lippuner den starken Willen, sich den wiederkehrenden Versehrtheiten mit Hilfe der Kunst zu widersetzen. Über ein absolviertes Grafik- und Kunststudium war die spätere künstlerische Tätigkeit längst vorgezeichnet.
Es widerspiegelt seine zwei Seelen, wenn er seine Themenstellungen einerseits mit poetischem Gestus fasste, sie handkehrum aber mit anklagendem Realismus unterfütterte. So legt ein Titel wie «Dunst des Unwägbaren» Weltentrücktheit nahe, «Manipulation der Autonomie» verstand er als offenbaren Fingerzeig auf die Fragwürdigkeit politischer Indoktrination.
Poetik und Politik
Hauptsächlich in der Malerei tun sich regelrechte Titelwelten auf. Ein buntfleckiges spätes Gemälde mit an den Rändern heranrückender Schwärze führt den Namen «Es zieht ein Mondenschatten» (2022). Mit der Bezugnahme der Zeile auf das «Gute Nacht»-Gedicht der «Winterreise» soll – analog zu Schuberts Liederzyklus – eine Visualisierung existenzieller Schmerzen des Menschen angetönt sein.
Auch aus anderen Überschriften der reifen Phasen spricht wenig Freude. Etwa: «Schlag ins Gesicht» (2016) oder «Nahe am Ungemach» (2017), beides Visualisierungen zu andauernden Flüchtlingskrisen. Über quietschbunte Überschwänglichkeit als auch in dezenter Schwarzweiss-Manier will Lippuner den vermeintlich paradiesischen Kontinent Europa zur Räson rufen. Kontrastiert man mit dem Titel der Kaltnadelradierung «Ballade der Gravität» (2020/21), begibt man sich in transzendentalere Sphären.
Ansehen und Belobigung
Kunst, die bei Christian Lippuner gerne auch grossformatig daherkommt, solle sich über kultivierte Rebellion auszeichnen. So wollte er ästhetisieren und überzeugen. Er litt darunter, dass man ihm ins Gesicht sagte, bei einem Einstieg mit über 50 Lebensjahren hätte er schlechte Karten. Der Kunstmarkt schätze den aufstrebenden Jungspund, einen etablierten Grafikdesigner liesse man nicht so schnell in den Olymp. Und: Seinem Werk fehle die überzeugende stilistische Einheit.
Er boxte sich durch. Mitunter standen ihm störrische und selbstbezogene Charakteranteile im Weg. Gleichzeitig ermöglichten sie wohl erst die stringent variierende Konsequenz seiner Bildsprache. Im Bildtitel «Im Glauben an Freiräume» (2014) etwa manifestiert sich Hoffnungsglaube. Über architektonische Versatzelemente scheint Lippuner appellieren zu wollen: Verbautes ruft nach gebotenen Anpassungsstrategien, Zugemauertes nach relevanter Sinnfälligkeit.
Im Zeichen der Menschenwürde
Auf die grosse Gunst des Schicksals hat der Thurgauer Künstler vergebens gewartet. Er steht damit in einer Reihe mit vielen und auch berühmteren Kolleginnen und Kollegen. Gesellschaftliche Versteinerungen aufweichen wollen? Wie ehrenhaft. Lippuners Alterswerk «Humanitas» (2021) legt Zeugnis davon ab: Der Mensch solle sich über gelebte Mündigkeit Spielräume des Handelns und Denkens ausbedingen.
Doch steht die Stahlplastik, deren Nichtverkauf Lippuner an den Rand der Verzweiflung brachte, nicht längst für eine nur auf der Insel Utopia umsetzbare Sozialethik? Wo jetzt lagern? Müsste sie pietätlos verschrottet werden, würden Lippuners Benennungen der Gedanken dahinter die grössere Überlebenschance haben? Titelgebilde wie «Quell unnachgiebiger Haltung», «Unberechenbarkeit des Standorts» (beide 2013) oder «Es ist mir, als verbrenne das Feuer jegliche Anhaftung» (2006).
Erbötig träumend
Befreiender Sinnenrausch, den ein Titel wie «Märchen von der Ausschüttung» (2015) hervorruft, wird immanent zugeschaufelt. Der Mär wohnt die Lügengeschichte inne, dem Teufel der Narr, dem Grab die Erlösung. Freischaffend zog Lippuner ins Feld. Seine Schwerter zerspringen an den vielen Windmühlenflügeln. Hetzerei werde zu Integration, Doktrinäres zu erdender Metaphysik, Lethargie zu Toleranz. So der Künstler, der versucht war, sich selbst für erhaben zu halten.
«Okkupation der Topografie» (2014) prangert Zersiedelung an, «Parabel vom Ungebremsten» (2010) selbstzerstörerischen Egoismus. «Zersetzung von Schönheit» (2017) weiss von zyklischem Kulturzerfall. Vergänglichkeit begleitet Lippuner, immer wieder erahnt er sie. Mit ihm hat sich eine erinnernswerte, exemplarisch gebrochene Kämpfernatur verabschiedet. Nicht bahnbrechend agierend, aber kleinräumig gross denkend.
In «Luzifers List» (2015) stellt er sich der teuflischen Gebärde. Lippuner scheute weder Hell noch Dunkel. In profund gesetzten und benannten Provokationen wie «Wo der Faschismus klammheimlich wuchert» (2010) ist er weder Anarchist noch Extremist. Der besonnene Aufklärer bediente sich feiner Ziselierungen wie des Schemenhaften. Die mühelos wirkende Akribie der Lineatur und sein inneres Feuer erstaunen. Seelenvergnügtes Schürfen lädt ein, selbst einmal der Sucht nach Höhenluft zu verfallen.
Christian Lippuners Homepage bleibt vorerst einsehbar.
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