von János Stefan Buchwardt, 28.07.2025
Zu echt fürs Museum

Ein Haus, das nach Farbe riecht und Geschichten erzählt. Das neue Adolf Dietrich-Haus ist kein Traditionsschrein, sondern ein Erlebnisraum rund um einen international herausragenden Maler. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Ein schmales Häuschen am See, ein Ziergarten, eine steile Treppe, die zu einer Stube führt, in der die Zeit stillsteht: Das Adolf Dietrich-Haus in Berlingen ist kein Museum im herkömmlichen Sinne. Es ist ein Erinnerungsort, der lebt und vibriert. «Ganz nach Farbe riecht es hier noch», sagt Bettina Huber, die jetzige Hausherrin, als sie dazu einlädt, die neue Gestaltung in Augenschein zu nehmen.
Seit bald zwanzig Jahren wohnt sie an diesem Ort, kennt jede Ecke, jedes Knarren der Dielen. Sie ist nicht nur Bewohnerin, sondern lebendige Vermittlerin, ein bodenständig wandelndes Archiv und sogar die gute Seele des Hauses. Was hier vollzogen wurde, ist eine sorgfältig durchdachte Verwandlung. Das Haus wurde nicht musealisiert, sondern zum Resonanzraum gemacht. Es atmet. Es lässt Farben sprechen und den Garten schweigen. Zwischen Blätterrauschen und Seeglanz entfaltet sich eine Welt, in der Dietrichs Kunst zur Landschaft wird und die Landschaft zur Kunst.
arttv.ch gibt einen Einblick in die neuen Räume
Neues Tor zu Dietrichs Welt
Der Eingangsbereich und der Dokumentationsraum sind modernisiert und in eine stimmige Erzählung überführt worden. Neugier ist nur das Stichwort für etwas Umfassenderes. Wer hier eintritt, wird zum Flaneur durch die Gedankenwelt eines Malers, der aus Einfachheit grosse Kunst gemacht hat.
Herzstück der neuen Vermittlung ist eine Videoinstallation mit Anja Tobler und dem Schauspieler Marcus Schäfer in der Rolle eines Kunsthistorikers. In einem inszenierten Zwiegespräch sprechen sie über die Bilder, Zeichnungen und Fotografien. Klug inszeniert und persönlich zugleich. Kein Vortrag, kein Museumston, vielmehr ein Gespräch, das einlädt, sich einzulassen. Das Publikum sitzt zwischen hochformatigen Bildschirmen. Man fühlt sich gemeint.

Ein Künstler, der blieb
Adolf Dietrich, Sohn eines Taglöhners und Kleinbauern, Autodidakt mit internationalem Renommee, ist seinem Elternhaus treu geblieben. Im Leben wie im Tod. Hier wurde er geboren, hier starb er. Die Stube im ersten Stock, die auch sein Malatelier war, blieb, wie sie war. Ein Kalenderblatt zeigt den 4. Juni, seinen Todestag. «Da ist die Zeit stehen geblieben. Und so ist es gut», sagt Bettina Huber mit einem Lächeln. Die Nachwelt profitiert davon.
Das Haus in Berlingen wurde Dietrichs Erbe, mitsamt dem künstlerischen Nachlass ging es gemäss seinem Wunsch an die Thurgauische Kunstgesellschaft. Hier lebte und lebt Einfachheit. Beinahe zehn Menschen auf wenigen Quadratmetern. Kleinviehstallungen und Werkräume unten, das eigentliche Leben oben.
Und mittendrin ein Mann, der mit seinen Augen und mit Bleistift und Pinsel ein Dorf und einen See festhielt und so zu einem Repräsentanten der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte. «Es ist erstaunlich, wie es ihm gelang, immer das Gleiche zu zeigen und doch nie langweilig zu werden», sinniert Landert. Die Welt des Dietrich: Schienerberg, Berlingen, der Bodensee, Blumen auf dem Tisch, sein Vater auf der Treppe …

Vermittlung ohne Vitrine
Ein Museum ohne Meisterwerke? Einige Besucher seien anfangs irritiert, weiss Bettina Huber zu berichten. «Dann schicke ich sie nach Ittingen oder aktuell auch nach Schaffhausen», sagt sie. Dort wird kein Geringerer als Otto Dix Adolf Dietrich gegenübergestellt. Was man an der Seestrasse 31 findet, ist eben ein anderes Original: das Erlebnis der Lebensumstände selbst.
Die Videoinstallation spräche viele an. Die Malstube zeige nur drei kleine Werke. Keines von musealem Wert, aber voller Geschichte. Ein Vogelbild mit echtem Vogelschiss, eine leere Leinwand, übriggebliebene Pinsel oder ein alter Glaskasten mit aufgespiessten Schmetterlingen und Käfern. Man wähnt sich mitten in scheinbar nostalgischer Besinnlichkeit und spürt: Das Leben in der Kunst und die Kunst des Lebens sind immer aktuell.
Der Landschaftsteppich
«Wir wollen keine museale Illusion erzeugen, sondern Kunst- und Kulturvermittlung alternativ und neu denken», hebt Landert hervor. Selbst der in Orange getauchte Toilettenraum stiftet Atmosphäre. Selbst in der Garderobe zeigt sich, dass jeder Winkel überdacht wurde. «Wenn ich an früher denke, sehe ich grau», sagt Huber. Jetzt hat Farbe Einzug gehalten, Rhythmus und ein Teppich im Videoraum, der aus einem Dietrich-Bild geboren wurde.
Letzterer basiert auf dem Gemälde «Mein Gärtchen in der Märzsonne» von 1935. Man hat etwas aufgreifen wollen, das Dietrich gerecht wird und zugleich den Raum besonders macht. Wie gelungen oder (un)spektakulär das ist, ist immer auch Geschmackssache. Aber es fügt sich als Originalität in den Gesamtkomplex ein.

Menschen machen Orte
Ohne Bettina Huber wäre das Haus nicht, was es ist. Sie kennt Dietrichs Welt, macht Führungen, beantwortet Fragen und trägt Geschichten weiter. Ein wahres Geschenk sei sie, sagt Landert voller Respekt. Für sie selbst war es ein Glücksfall. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Zusammenarbeit mit der Kunstgesellschaft laufe bestens, die Dorfgemeinschaft habe sie aufgenommen. Ursprünglich aus Frauenfeld, kümmert sie sich bis heute um die Dinge hier. Inzwischen hilft ein kleines Team mit, damit sie nicht jedes Wochenende Dienst schieben muss. «Ein klassischer Rentnerjob halt», bemerkt sie lachend. Und sie geniesst es.
Mehr Sinn als Gewinn
Der Betrieb der Einrichtung ist eine stille Kunst für sich, fragil und fordernd. Die Finanzierung stützt sich auf den Lotteriefonds und punktuelle Förderungen, die Organisation lebt vom Ehrenamt. Führungen gibt es auf Anfrage, geöffnet ist am Wochenende bei kostenlosem Eintritt. Sommers wie winters kommen Schulklassen, Sammler und Wissende vorbei, nicht zuletzt der Tourismus, der am Seeufer entlangzieht. «Wir machen hier kein Geld», konstatiert Landert, «wir machen Sinn.»
Seit 1957 hält die Kunstgesellschaft diesen Ort zugänglich. Restaurierungen gelingen dank öffentlicher Mittel und privater Unterstützung. Den laufenden Betrieb zu sichern, ist die eigentliche Herausforderung. Begrüssenswerterweise wachse in Berlingen das Verständnis: Ohne Dietrich kein Dorf und ohne Dorf kein Dietrich. Seine Kunst formt Identität, lokal, dann regional und sowieso weit darüber hinaus.
Dass das alles funktioniert, damit die fragile und doch kraftvolle Mischung aus kultureller Substanz und menschlichem Engagement gelingt, braucht es Menschen wie Bettina Huber. Mit eigenem Charme und Ausdauer hält sie das Haus lebendig. Kleines Haus, grosser Anspruch. Und die ausgesprochene Hoffnung, dass beides noch lange zusammengehört.

Modernität mit Mass
Ja, die Farben im Adolf Dietrich-Haus sprechen. Entwickelt aus seinen Bildern, eingesetzt von der Künstlerin Erna Hürzeler, beraten vom Architekten Werner Keller, getragen von einer Projektgruppe, in der Textildesigner und Kuratoren zusammenkamen.
Keine Videowalls, keine immersiven Effektschlaufen. Stattdessen Gespräche, Bücher und käuflich zu erwerbende Postkarten. Ein lebensnaher Zugang zu Adolf Dietrich, ohne Hochglanz. «Wir wollten zeigen, was sein Werk umfasst, ohne es zu vergötzen», hält Landert fest. Nicht das eine Meisterstück steht im Zentrum, sondern viele Einblicke in ein Leben. Nichts Auratisches, sondern Erzählerisches. Kein Kult, sondern Respekt vor dem gelebten Wandel.
Im Netzwerk der Gegenwart
Institutionell ist das Haus klug verortet. Es versteht sich als Teil eines Netzwerks zur Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dietrichs Arbeiten hängen im Kunsthaus Zürich, erscheinen in Ausstellungen zur Neuen Sachlichkeit und zur Naiven Kunst. Die Bedeutung entsteht durch dieses Vernetztsein. Das kleine Haus allein genügt nicht, aber es ergänzt, vertieft und erzählt weiter. Wer hier eintritt, begibt sich nicht selten auf eine Reise zu anderen Orten. Etwa ins Kunstmuseum Thurgau, wo Dietrichs Bilder permanent präsent sind, oder zu anderen Stätten, die mit Dietrichs Leben und Wirken verwoben sind.

Zukunft aus Geschichte
Was bleibt? Und was kommt? «Nicht erst in hundert Jahren wird es eine neue Bettina brauchen», sagt Markus Landert. Bald käme die Fernwärme nach Berlingen, stets seien neue Zugänge gefragt. Doch der Kern bleibt: Das Adolf Dietrich-Haus ist Erfahrungsraum. Kein Schatzhaus, sondern ein Scharnier zwischen Alltag und Kunst.
Dietrich war kein entrücktes Genie. Er war einer von uns und doch besonders. «Für Kinder ist es wichtig zu sehen, wie wenig es braucht, um glücklich zu sein und Grosses zu schaffen», sagt Bettina Huber. Landert ergänzt: «Er lehrt uns bis heute, genau hinzuschauen.» Wer Berlingen durch diese Brille betrachtet, geht mit anderem Blick nach Hause. Und vielleicht mit einer Postkarte, die Bände spricht, und dem Eindruck, dass das Haus leise und lange nachhallt.


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