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von Barbara Camenzind, 30.05.2023

Autonomie und Klangsprache

Autonomie und Klangsprache
Eröffnete die diesjährigen Ittinger Pfingstkonzerte: Schlagzeuger Johannes Fischer mit Iannis Xenakis. | © Barbara Camenzind

Sein Programm 2020 für die Ittinger Pfingstkonzerte fiel der Pandemie zum Opfer, jetzt kam Cellist Nicolas Altstaedt mit „Autonomia” noch einmal zum Zug in der Kartause. Was für ein Glück! (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Pfingsten ist das Hochfest der Sprache. Man erinnere sich, diese Sache mit dem Heiligen Geist und den Aposteln, die plötzlich „in Zungen” sprachen und alles und jeden um sich herum verstanden. Paulus, Petrus und Co. sprachen übrigens im Alltag Koiné-Griechisch. Sensationell also und schon fast ein theologischer Wurf, dass mit Iannis Xenakis „Psappha” für Schlagzeug solo, erst mal alle in der Remise munter wach getrommelt wurden.

Was für ein kluges, witziges und spannungsgeladenes Stück, das Johannes Fischer mit seinen grossen und kleinen Trommeln, den Xylos und den scherbelnden Metallen da präsentierte. Wie gespannt die Zuhörenden ihm auch in den vielen Generalpausen folgten: Psappha orientiert sich an der sapphischen Strophe, benannt nach Sappho, der griechischen Dichterin.

Mitten in einem Gedicht sitzen

Dieses aus fünffüssigen Elfsilben bestehende Betonungsschema, mit einer daktylischen Unterbrechung an dritter Stelle. Sänger:innen werden an guten Ausbildungsstätten damit beim Erlernen von Secco-Rezitativen gedrillt, was gar nicht schadet. Denn auch die Pausen gehören dazu. Wer genau hinhörte, spürte, wie Fischer genau diese Klangsprache, die Klangarchitektur heraushämmerte. Es war, als sässe man mitten in der Musik, mitten in einem Gedicht aus Rhythmen und Formen. Grossartig, so zu beginnen.

Mindestens so spannend ging es weiter. Schönschräg, unendlich traurig und zerbrechlich klang Arnold Schönbergs spätes Streichtrio, das er 1946 todkrank in Amerika schrieb. Es war, als würden Ilya Gringolts, Violine, Lawrence Power, Viola und Nicolas Altstaedt einen zerbrochenen Spiegel mit unterschiedlichen Klangbildern behutsam wieder zusammensetzen. Solche Bruchstücke mit wehen Serien, mit wienerischen Konsonanzen und verbunden mit einer grossen Sehnsucht. Beeindruckend, wie die drei Künstler aus diesem vielschichtigen Werk die Motive herausarbeiteten und immer im gleichen Atem blieben.

Ein Schweizer mit bewegter Geschichte

Hand aufs Herz: Wer weiss, wer Constantin Regamey war, hier in der Ostschweiz? Die eingefleischten Neue-Musik-Fans vielleicht, die ihn noch als Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik IGNM kannten.

Der Schweizer Komponist, Autodidakt und Sprachwissenschaftler kam 1907 in Kiew zur Welt, studierte erst etwas Musik, dann orientalische Sprachen und schaffte es glücklicherweise dank seines Schweizer Passes nach dem Einmarsch Hitlers in Polen in die Schweiz, wo er in Lausanne als Linguist und Philologe arbeitete - und weiter komponierte.

 

Künstlerischer Leiter der diesjährigen Ittinger Pfingstkonzerte: Der Cellist Nicolas Altstaedt. Bild: Archib

Klarinette auf Achterbahnfahrt

Expressionistisch begann sein Quintett für Klarinette, Fagott, Violine, Violoncello und Klavier. Schnell war zu hören, dass diese Musik sich nahe an Lauten, Sprachformen orientiert. Leicht exzentrisch sang Gringolts Geige, während der locker- konzentrierte Mann am Klavier (Alexander Lonquich) die Verbindungen schuf zwischen Bram van Sambeeks Fagott, Altstaedts launisch-auftrumpfenden Cello und einer Klarinette auf Achterbahnfahrt.

Was für ein virtuoses Stück Musik, das entfernt wie eine Paraphrase auf Schuberts Erlkönig-Vertonung klang, das Klarinettist Matthew Hunt da spielen musste. Spannend, vielschichtig, wahrscheinlich müsste man sich länger mit Regameys Musik befassen, um alles herauszuhören.

Den Einstieg in die Pfingstkonzerte mit lauter Musik aus dem 20. Jahrhundert: Wie cool ist das denn! Und Nicholas Altstaedt hat Wort gehalten, was seine Aussage im Programmheft-Interview betraf: Es gibt für ihn keinen Mainstream. Dass dieses Konzert nicht ganz verkauft war: Diese Musik polarisierte schon immer, gut, dass man sie weiterhin aufführt. Wir essen schliesslich auch nicht jeden Tag Spaghetti.

Musik aus dem Konzentrationslager

Der Samstag begann mit Leoš Janáčeks grosser Violinsonate, an der er acht Jahre lang schrieb. Barnabás Kelemen und Alexander Loquich schafften den Bruch mühelos zwischen dem eher sperrigen ersten Satz und dieser auf grossem Atem zu spielender Ballade im zweiten Satz, in der Kelemen seiner Geige alle Farben herauszauberte.

Auch Janáček war die Verbindung zwischen Tonfall und Musik wichtig: In dem von Christoph Vratz klug gestalteten Beiträgen im Programmheft gesteht der Komponist in einem Zitat, dass er Sprachmelodien sammle, weil sie für die dramatische Musik grosse Bedeutung habe.

„Die Introduzione e Coda” für Klarinette (Matthew Hunt), Barnabás Kelemen, Violine, und Alexander Loquich, Klavier von Sándor Veress schlug nun den Bogen zu den Volksweisen-basierten Komponisten und Kompositionen, das mit einem Rückwärtssalto im Zeitstrahl. 1972 komponiert, gehört es zu den jüngsten Kompositionen. Ein leicht surrealer Czardas, gut gespielt.

Video: arttv.ch über die Pfingstkonzerte

Der Hunger nach Leben

Die beiden Komponisten Hans Krása und Gideon Klein traf dasselbe Schicksal. Im Konzentrationslager Theresienstadt hatten sie zwar noch eine Weile ein musikalisches Auskommen im Irrsinn der faschistischen Rassenideologie, doch die Endstation hiess für beide Auschwitz-Birkenau. Krásas lebenshungrig-abgründiger Tanz Tanec, von den drei Musikern Altstaedt, Gringolts und Lawrence Power an der Bratsche subtil-hintersinnig zum Erklingen gebracht. Kleins Streichtrio, im KZ geschrieben - dieser Hunger nach Leben in den Weisen: Was für eine Liebe zu seiner Heimat Mähren sprach da tonmalend heraus.

Die Dumka, ein ursprünglich ukrainisches Klagelied, später Heldenlied, wurde ursprünglich von den Kosaken vorgetragen. Ein Reitervolk, dem schlussendlich der andere Diktator, Josef Stalin, den Garaus machte. Ohne Antonín Dvořák, der auf seine Art und Weise wie ein Schwamm die Volkskultur aufsaugte und damit die Kunstmusik bereicherte, wären die Melodien der Dumky wohl verloren gegangen. So blieben sie versteckt.

Wunderschön gespielt, gerade Dvořáks Tonsprache lag Barnabás Kelemens grossem Ton in der Geige besonders gut. Es war, als würden er zusammen mit Altstaedt am Cello und Lonquich am Klavier immer wieder gross Anlauf holen, um noch und noch eine Strophe hinzuzufügen. Dvořáks Dumky-Trio erklang als grosser Gesang.

Tönesammler und freche Streicher

Grossen Spass hatten am Abend der Geiger Ilya Gringolts und der Bratscher Lawrence Power: Was für freche Musik in diesen drei Madrigalen von Bohuslav Martinů steckt. Irgendwie erklang das ganze so, als hätten sich Martinů mit Bartók und Thomas Morley auf ein Bier getroffen und ein Mysterienspiel ausgeheckt. Präzise Zuwürfe, verschmitzte Mienen, es hat auch Spass gemacht, zuzuhören.

Korngold fängt mit K an, wie die ganz grosse Kelle. Wer sein Violinkonzert kennt, freut sich auch über sein Klaviertrio, geschrieben für Sascha Haifetz. Ein perfektes Stück Musik für filmmusikverliebte Ohren und den so schwärmerischen Geigenton, den Barnabás Kelemen einfach drauf hat. Feinsinnig konterkariert vom Mann am Cello, der diese Richard-Strauss-Paraphrasen mit feinen Untertönen und subtilen Pizzicati unterfütterte.

Grüsse aus der Neuen Welt

Dvořáks Streichquintett Nr. 97 erklang zum Schluss des Abends: Was für ein andere Tonsprache erklang da: Richtig, wie aus der Neuen Welt. Der grosse tschechische Tönesammler hat auch in Amerika Melodien, Sprachen, Eindrücke aufgesogen und zu wunderbarer Musik verkomponiert.

Es war ganz einfach eine Freude, Ilya Gringolts, Barnabás Kelemen an den Geigen, Katalin Kokas und Lawrence Power an den Bratschen und Nicolas Altstaedt am Cello zuzuhören, wie sie diese berührende Musik mit den weiten hymnischen Passagen spielten.

Das Fazit: Überzeugende und vielschichtige Pfingstkonzerte

Nicolas Altstaedts klug und vielschichtig vernetztes Programm hat wirklich überzeugt: Auch dass den Komponisten und ihrer Musik eine Stimme gab, die beinahe von Diktaturen kaputt gemacht worden sind. Und ja: Dvořák, der Tönesammler war auf seine Weise ein Held, denn er hat uns ein Ton-Fenster in Musikkulturen geschenkt, die längst untergegangen sind .

 

 

 

 

 

 

 

 

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