von Judith Schuck, 31.08.2022
"Wir haben politisch wirklich arge Sachen am Laufen"
In „Culturestress“ versammelt Sarah Elena Müller Ovarienflüsterer, durchs All schwebende Kartoffeln und Menschen, die ohne geladenes Smartphone ein Niemand sind. Bei der Lektüre erfahren wir vielleicht ein wenig mehr über uns selbst und die vielen möglichen Ichs in uns. Am 4. September liest die für den Weinfelder Buchpreis nominierte Autorin im Theaterhaus Thurgau. Vorab ein Einblick in ihr zynisch-witziges Buch. (Lesezeit: 4 Min.)
An den Weinfelder Buchtagen stellen Sie Ihr neues Buch „Culturestress“ vor. Es ist eine Kollektion Ihrer Kolumnen aus „Der Bund“. Die Kurzgeschichten und ihre Figuren klingen absurd, es sind aber irgendwo völlig alltägliche Geschehnisse, die wir irgendwie kennen. Wie schaffen Sie es, diese absurde Normalität sprachlich so genial zu verpacken? Dazu benötigt es ja auch wieder einen Gewissen Abstand zum Thema.
Sarah Elena Müller: Das war Teil meiner Ambitionen als Kolumnenschreiberin. Die Kolumnen müssen ja regelmässig verfasst werden und richten sich meines Erachtens an ein eher undefiniertes Publikum. Mir ging das früher immer wahnsinnig gegen den Strich, wenn die Kolumnist:innen die Distanz nicht wahren und aus dem Nähkästchen plaudern. Es ergeben sich eigentlich lustigere Dinge beim Schreiben, als wenn man immer nur über sich selbst redet. Das war mein Self-Entertainment bei dieser Arbeit. Die Geschichten bewegen sich zwischen einer minimal-journalistischen Recherche und dem, was ich im Alltag so aufschnappe. Aber mich hat immer schon interessiert, wie sich in so einer kurzen Textform doch noch einen kleinen dramaturgischen Bogen spannen lässt. Es sollte nicht bei 3500 Zeichen Meinungsäusserung bleiben, sondern ein Stil oder Narrativ entstehen.
Die Texte sind immer zugespitzt, aber dennoch nah an der oft bitteren Realität, beispielsweise wenn Sie über den Einsatz von Glyphosat schreiben in „Syngenta live im Feld“. Darin nimmt sich ein brasilianischer Bauer mit einem Schluck vom Unkrautvernichtungsmittel das Leben. Oder auch die kafkaeske Anekdote vom Schoggitaler, dem „Voll sozial Taler“, den die KESB einem Klienten zum neuen Jahr schenkt, und der sich dann überlegt, ob er sich dafür wohl Nasenspray in der Apotheke kaufen kann.
Die Realität gibt ja genug her, um sich zu bedienen. Ich habe versucht, kein konstantes Kolumnen-Ich zu etablieren. Regelmässig für Magazine Schreibende haben ja oft die Strategie, ein gefestigtes Ich zu schaffen, durch das sie dann sprechen und auf die Realität blicken. Ich fand es spannend auszuprobieren, wie viele verschiedene Ichs es denn gibt. In meinen Kolumnen sprechen fast immer irgendwelche Stellvertreter:innen.
Sie sezieren mit einem feinen Sinn für Menschen und ihre Marotten die schweizer Gesellschaft. Politische Fragen, die Windmühlen der Bürokratie und soziale Gerechtigkeit sind in Ihren Kolumnen allgegenwärtig. Woher kommt Ihr Gespür für diese Themen?
Es gibt innerhalb jeder Geselleschaft immer wieder Ecken und Orte, an denen du klar zu spüren bekommst, dass die Werte, die du vertrittst, gegen dich arbeiten. Ich habe selber hier in Bern in sehr prekären Verhältnissen gelebt und die Widersprüche des Systems, das einen versucht zu handhaben, ein bisschen miterlebt.
Wie kam es zur Idee, die Kolumnen in einem Buch zusammenzufassen?
Das war ein Zufall. Während meiner Verlagssuche für „Bild ohne Mädchen“ habe ich den Verlag Der gesunde Menschenversand kontaktiert, doch das war ihnen nicht „spoken“ genug. Da haben sie mich gefragt, ob ich nicht noch was hätte, was mehr „Punk“ sei. Als der Verleger dann die Kolumnen las, fand er sie als „Gesamtding“ publizierenswert.
Wie finden Sie das Gesamtwerk?
Die Geschichten vermitteln eine wilde Stimmung, wenn sie alle beisammen sind. Bei den einzelnen Kolumnen hat das die Leser:innen glaube ich oft irritiert, weil sie im Zeitungskontext waren, so ein komisches fantastisches Zeug – die Kolumne ist ja auch in Schweizerdeutsch geschrieben. Das ist die Vorgabe vom „Bund“, da diese Kolumne seit 35 Jahren auf Mundart geschrieben wird. Aber als Sammlung ergeben die Geschichten mehr Gesamtsinn.
Haben Sie selbst den Sinn denn manchmal hinterfragt?
Eigentlich wusste ich nie, an wen ich mich in dieser Zeitung richte. Manchmal habe ich Mails und Kommentare bekommen, die ziemlich hasserfüllt oder nicht wahnsinnig produktiv waren. Das jetzt als literarische Gesamtausgabe zu sehen, ist schön.
Wie ist das denn bei Ihnen mit der Mundart. Sie sind ja sehr vielseitig unterwegs, als intermediale Künstlerin. Die Songtexte Ihrer Band „Cruise Ship Misery“ sind (meist) Berndüütsch, das selbst Schweizer in ihrem Verstehen herausfordert. Wollen Sie mit dem Dialekt Nähe und Identifikation herstellen oder wollen Sie sich nur an diejenigen richten, die Sie auch verstehen?
Bei den Kolumnen war es nicht meine Wahl. Und die Texte von Cruise Ship schreibe ich erst in Schriftdeutsch. Die Sängerin Milena Krstic übersetzt sie dann ins Berndeutsche. Ich kann gar kein Berndeutsch. Wir arbeiten aber live mit Projektionen der deutschen Übertitel, weil uns das total wichtig ist, verstanden zu werden.
Wird „Culturestress“ mal übersetzt werden?
(Lacht) Ich glaube es eher nicht.
Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, im Dialekt über komplexe Themen zu schreiben. Dazu musst du dir ja selbst erstmal Regeln schaffen, wie du was schreibst.
Anfangs fand ich es anstrengend. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, etwas in Mundart zu schreiben. Das war echt ein Hindernis. Nach zwei Jahren war ich dann ungefähr so drin, dass ich in Mundart überhaupt einen Gedanken fassen konnte. Aber das ist auch das, was ich ihr unterstelle: Dass du keine ernstzunehmenden Inhalte auf Schweizerdeutsch verhandeln kannst, weil es eben literarisch umgesetzt oft gepflegte Kunstsprache bleibt – immer ein bisschen verniedlichend.
Aber das Verniedlichende macht Ihre Geschichten ja gerade noch krasser, zynischer. Ich denke, sie funktionieren auf jeden Fall auch in Schriftdeutsch, aber es kommt schon anders rüber.
Es ist eine Schweizer Realität, dass wir uns hinter dieser zweiten Sprache verstecken, immer dieses beschauliche „Suisse Miniature“-Bild nach aussen tragen, aber wir haben politisch wirklich arge Sachen am Laufen. Manchmal frage ich mich, ob es Teil eines Nicht-die-Verantwortung-tragen-Wollens ist, denn die offizielle Sprache und die der Politik ist eine andere, als die, die wir im Alltag verwenden. Zumindest in der Deutschschweiz. Dadurch kommt es zu einer seltsamen Realitätsverschiebung.
Sie sind Gründungsmitglied von RAUF, einer Organisation, die sich gegen die Diskriminierung von Frauen im Literaturbetrieb einsetzt. Für den Weinfelder Buchpreis sind mit Ihnen 9 Frauen von insgesamt 15 Autor:innen nominiert. Ist das eine Ausnahme oder passiert tatsächlich etwas im Literaturbetrieb?
Es fällt mir positiv auf, dass in Weinfelden viele Frauen nominiert sind und auch an anderen Ecken etwas geschieht. Ob die Tendenz anhält, werden wir erst in einen paar Jahren feststellen und vergleichen können. Es wäre schön, wenn es nicht bei einem #Feminismus bleibt, sondern Realität wird.
Culturestress
Sarah Elena Müller arbeitet multimedial als Musikerin, Autorin, mit virtuellen Realitäten, Hörspielen und Theaterstücken. In Amden/St. Gallen aufgewachsen, studierte die 30-Jährige Fine Arts in Zürich und schliesslich Bern, wo sie heute lebt. Bei den Weinfelder Buchtagen liest sie am 4. September um 16.15 Uhr im Theaterhaus Thurgau.
Sarah Elena Müller
Culturestress - Endziit isch immer scho inbegriffe
Der gesunde Menschenverstand, Luzern, 2021
ISBN 978-3-03853-117-3
Von Judith Schuck
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