von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 29.10.2020
Das Corona-Experiment
In der Schweiz bleiben alle Kultureinrichtungen geöffnet, in Deutschland müssen im November alle Theater, Kinos und Museen schliessen. Das Verrückte unserer Zeit ist: Beides kann falsch sein.
Wer Freude an kniffligen Denkaufgaben hat, der wird dieses seltsame Jahr 2020 irgendwie mögen. Denn welches Jahr in der jüngeren Vergangenheit hätte uns jemals vor solche Rätsel gestellt? Ein Beispiel: Etwas, das wir heute als richtig erachten, kann sich in zwei Wochen als falsch erweisen. Gleichzeitig kann sich etwas, das wir heute als falsch und unangemessen bezeichnen, in zwei Wochen als goldrichtig herausstellen. Häh? Richtig falsch, falsch richtig? Wenn richtig und falsch nur noch eine maximale Haltbarkeit von 14 Tagen haben - in was für einer verrückten Zeit leben wir denn dann bitte?
Wohnt man zum Beispiel an der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz, muss man gerade viel von dieser Mehrdeutigkeit, dieser Ambiguität aushalten. Während in der Schweiz alle Kultureinrichtungen geöffnet bleiben und Veranstaltungen mit bis zu 50 Personen weiter möglich sind, wird in Deutschland ab Montag die Kulturbranche mal wieder komplett herunter gefahren: Theater, Kinos, Konzerthäuser, Museen - alle müssen schliessen. Die Frage ist nun: Wer handelt richtig?
Die enttäuschende Antwort darauf lautet: Ein Wesen dieser Krise ist, dass niemand in diesem Moment sagen kann, welche Corona-Strategie die bessere ist.
Es ist doch gut, dass Kultureinrichtungen offen bleiben
Denn: Es gibt für das eine wie das andere gute Argumente. Beides kann richtig, beides kann falsch sein. Für die Kulturschaffenden und Veranstalter ist es gut, wenn sie zumindest noch ansatzweise ihrem Job nachgehen dürfen. Für die Gesellschaft ist es gut, wenn der öffentliche Austausch, zumindest einen Spalt breit geöffnet bleibt. Wenn Gemeinschaft weiterhin möglich ist.
Während man noch so darüber nachdenkt, stellt sich schon die nächste Frage: Ist es vielleicht doch besser, wenn sich alle für einen Monat zusammenreissen und danach wieder mehr Lockerung möglich ist? Oder treibt man damit eine ganze Branche in den endgültigen Ruin? Andererseits: Gehen Leute unter den gegebenen Bedingungen überhaupt noch ins Theater oder ins Kino? Oder wäre es auch für die Betriebe am Ende kostengünstiger zu schliessen als vor zwei Zuschauern zu spielen? Hilft es dem Gesundheitssystem womöglich mehr, wenn erst der Hammer kommt und später der leichtfüssige Tanz? Fragen über Fragen.
Oder ist es vielleicht besser, kurz und hart zu schliessen?
Wer könnte darauf heute schon eine verlässliche Antwort geben? Nicht mal die Virologen und Epidemiologen sind sich in dieser Hinsicht einig.
Am Ende geht es um die ganz grossen Fragen: Wen schützen wir mehr? Das Individuum oder das Kollektiv? Wenn man es so herunter bricht, wird auch klar, weshalb sich die Schweiz und Deutschland auf so unterschiedliche Wege begeben haben. Die Entscheidungen fielen gemäss altbekannter Länder-DNAs: Die Betonung der Eigenverantwortung hier und der Wunsch, Dinge klar für alle zu regeln dort.
Dieses Virus schert sich nicht um Ländergrenzen
Selbst wenn man das weiss - es ändert nichts am grundlegenden Dilemma. Oder sagen wir besser, es ändert nichts an dem direkt erlebten Widerspruch, wenn man an der Grenze lebt. Das Theater Konstanz muss schliessen, das Theater St. Gallen darf weiter spielen. Wie sinnvoll und nachvollziehbar das ist, angesichts eines Virus, das sich nicht um Ländergrenzen schert, muss jeder für sich selbst beantworten.
Man kann daran verzweifeln. Oder, was im Hinblick auf den bevorstehenden langen Winter psychisch vermutlich gesünder ist, versuchen mit dieser Ambiguität zu leben. Wie das geht, kann man übrigens wunderbar in der Kultur lernen. Kunst und Literatur ist per Definition eben nicht eindeutig. Ein Werk bedeutet nie eins zu eins das, wonach es zunächst aussieht. Es kommen immer andere Dimensionen dazu. Wer das verstanden hat, wird übrigens auch immun gegen Verschwörungserzählungen.
Wie Kultur dabei hilft, Mehrdeutigkeit zu ertragen
Alles kann so sein, oder auch ganz anders. Dinge können richtig sein und gleichzeitig falsch. Nichts ist eindeutig. Nichts ist schwarz-weiss. Die Grautöne dominieren. Es wird Zeit, dass wir lernen damit zu leben. Wann, wenn nicht jetzt?
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