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Der 1. August: Ein Tag wie jeder andere?

Der 1. August: Ein Tag wie jeder andere?
Welche Bedeutung haben Nationalfeiertage wie der 1. August heute noch? 7 Thurgauer Künstlerinnen und Künstler sprechen über ihren Bezug zur Bundesfeier. Das Bild zeigt die Schweizer Flagge im Hafen von Romanshorn. | © Christian Perret/Thurgau Tourismus

Am 1. August feiert sich das ganze Land wieder selbst. Aber was bedeutet ein solcher Nationalfeiertag in globalisierten Zeiten noch? 8 Thurgauer Künstlerinnen und Künstler haben sich Gedanken gemacht.

Vor 128 Jahren wurde der 1. August zum ersten Mal gefeiert, damals noch nur in Bern. Erst acht Jahre später, also ab 1899, wurde der Tag schweizweit begangen, wenn auch je nach Kanton durchaus unterschiedlich. Es ist wie so oft mit verordneten Feiertagen - man weiss nicht so genau, wie man sich dazu verhalten soll. Hat der Tag heute noch eine Bedeutung? Interessiert er uns noch oder ist er nurmehr eine gute Gelegenheit, um günstig in Deutschland einkaufen zu fahren? Wir wollten es genauer wissen und haben Thurgauer Künstlerinnen und Künstler gefragt: Sagt, wie haltet ihr es mit dem 1. August? Das sind ihre Antworten.

Lara Stoll, Kabarettistin

 

«Ich würde eigentlich lieber zum 2. August etwas sagen, aber danach fragt ja wieder keiner. Ein schönes Datum ist es, das muss man zugeben. Und es gefällt mir auch, wenn sich Menschen friedlich zusammenfinden, vor allem, wenn sie sich friedlich zusammenfinden, um an unbestimmten oder bestimmten Stellen kegelförmige Anhäufungen von Holz in Brand zu stecken. August-Funken, die in der Dunkelheit lodern und die Seele wärmen.

Sofern die Erderwärmung dieses Jahr ein Auge zudrückt und man die Haufen anzünden darf, ohne Gefahr zu laufen, dass wegen immenser Trockenheit eine ganze Nation einem Lauffeuer-Inferno zum Opfer fällt. Das wäre ja schliesslich ein gar ironisches Szenario für einen Gründungs-Feiertag.

Der 1. August, was soll ich sagen; mir fehlen die Worte. Es erscheint mir grundsätzlich einfach lächerlich, wenn ein Staatsapparat seinen Geburtstag und damit einhergehend seine geografischen Grenzen zelebriert. Vor allem wenn es sich dabei um einen Staat handelt, der bei vier Landessprachen dreissig verschiedene Wörter für „Öpfel Bitschgi“ verwendet und sich der Deutschweizer und der Frankophone in den Tiefen des Röstigrabens gegenseitig in englischer Sprache ins Tomatenfondue spucken.

Allem voran natürlich in Anbetracht des Umstandes, welch absurdem Schicksal der Mensch es generell zu verdanken hat, dass dieser Planet ihn während eines Wimpernschlages seiner Evolutionsgeschichte gewähren lässt.»


Andrea Gerster, Schriftstellerin

„Wenn ich schweizweit für die 1. August Feier zuständig wäre, gäbe es pro Kanton eine einzige Augustfeier und diese ohne Feuerwerk. Sie würde ausserdem am 1. August stattfinden und nicht wie vielerorts bereits am 31. Juli. Augustreden dürften jene halten, die das ganze Jahr über wenig zu sagen haben. Na ja, ich bin aber nicht zuständig, so werde ich die Tage um den ersten August herum damit beschäftigt sein, Hund und Katze zu beruhigen, und am Abend werde ich Enkelsohn Janeo feiern, der es tatsächlich geschafft hat, am 1. August 2016 auf die Welt zu kommen. Mehr Schweiz geht nicht, oder?“


Olli Hauenstein, Clown

 

Dialogzitat aus der WILHELM-TELL-NUMMER

FOOTTIT Mesdames et Messieurs! Wir präsentieren Wilhelm Tell!

RAFAEL Hä?

FOOTTIT Tell!

RAFAEL Tell, Tell ... Ah, Telefon! 

FOOTTIT Nein! Wilhelm Tell! Kennst du nicht?

RAFAEL Ah doch, Wilhelm Tell! Er ist ein guter Freund von mir!

FOOTTIT Wilhelm Tell ist tot.

RAFAEL Was, er ist tot? Ich wusste nicht mal, dass er krank war!                   Wann ist er denn gestorben?

FOOTTIT Er ist schon seit 1.000 Jahren tot

RAFAEL Was? Wie schnell die Zeit vergeht…

«Was? Wie schnell die Zeit vergeht
Es wird Zeit, dass wir was tun. Wir wissen mehr, viel mehr als Rafael über Wilhelm Tell. Zu Tells Zeiten sind Menschen zusammengestanden und haben mutig ihre Welt verändert. Ein Tellsgeschoss genügt nicht mehr, und schon zu Tells Zeiten hat das nicht genügt. Wir müssen bei uns selber und gemeinsam etwas ändern in unserem Leben wenn wir die Welt verändern wollen. Unsere Erde ist in Gefahr, es gilt zu handeln, Erkenntnisse und Entschlüsse umsetzen bevor es zu spät ist. Wilhelm Tell darf nicht tot sein.»

Tell-Szene aus Foottit & Chocolat. Olli Hauenstein hat sich gewünscht, dass wir dieses Bild zu seinem Text stellen. Bild: Ilja Mess/Theater Konstanz

 


Lina Button, Sängerin

„Der 1. August ist für mich meist ein Arbeitstag. Sei es als Rednerin wie zum Beispiel vor zwei Jahren in Wigoltingen oder als Sängerin wie in diesem Jahr. Es macht Freude, als Künstlerin etwas zur Feier beitragen zu können.“


Usama Al-Shahmani, Schriftsteller

„Ich lebe seit 2002 in der Schweiz. Bis zum vergangenen Jahr war der 1. August für mich vor allem ein Auslöser, in die Schweizer Geschichte einzutauchen. Um zu verstehen, wie das Land, in dem ich lebe, wurde, was es heute ist. Ich habe mir dann auch immer die Frage gestellt, was es eigentlich ist, dass die Schweizer miteinander verbindet. Die Hautfarbe? Die Art und Weise, wie hier Probleme bewältigt werden? Die Landschaft? Ehrlich gesagt, habe ich noch keine richtige Antwort darauf gefunden. Vielleicht ist es von allem ein bisschen. Mir kommt es aber so vor, als gäbe es so etwas wie eine stillschweigende Vereinbarung der Menschen, die hier leben, eine Art unausgesprochenes Bekenntnis zu diesem Land zu gehören, in dem man lebt.

Mein Verhältnis zum 1. August hat sich im vergangenen Jahr nochmal geändert, weil ich da die Rede zum 1. August in Appenzell halten durfte. Ich habe das als grosse Anerkennung empfunden, es war wie ein sehr schönes Ankommen in der schweizerischen Gesellschaft für mich. Grundsätzlich glaube ich, dass ein solcher Nationalfeiertag auch heute noch eine grosse Kraft haben kann. Ich sehe das sehr deutlich zum Beispiel im Vergleich zum Irak, dem Land aus dem ich hierher gekommen bin. Dort gibt es keinen allgemein gültigen Nationalfeiertag. Dort wird eher nach den Unterschieden zwischen den Menschen gesucht, es gibt grosse Gräben zwischen den Menschen. Natürlich gibt es auch in der Schweiz Unterschiede zwischen den Menschen und es gibt gesellschaftliche Kräfte, die das befeuern wollen. Aber ich empfinde den 1. August vor allem als einen Tag, an dem man sich darauf besinnt, was uns verbindet. Nicht, dass was uns trennt. Das gefällt mir sehr gut.“


David Lang, Komponist und Musiker

«Heuer ist der 1. August ein ganz normaler Probetag für unser Musical RunggleBuur. Vielleicht werden wir danach mit den Sängerinnen und Sängern das traditionelle Strandfest in Mammern besuchen, so wie vor drei Jahren während der Proben für das Musical Seegfrörni.

So wie ich Traditionen mag, mag ich den 1. August. In Berlin lauschten wir mit dem Schweizer Verein der Rede von Bundespräsidentin Leuthard für die Auslandschweizer ab CD. Irgendwie eine schräge Erfahrung. 1. August ist für mich eine starke Kindheitserinnerung: wunderschöne Lampions an einem Holzstecken (dieselben, die es heute noch gibt), der Männerchor tritt im Park der Klinik in Mammern auf. Dort ist der Brunnen mit roten und weissen schwimmenden Blüten geschmückt. Man lauscht der Rede vom Balkon, dem Gesang und dem Spiel der Musikgesellschaft Eschenz und kümmert sich nebenbei um aggressive Moskitos. Eine wunderbare, weihevolle Stimmung.

Danach geht’s durch den mit Lampions geschmückten Park ab an den Landesteg, wo ich meine Ersparnisse, eine Kombination aus sauer verdientem Obstgeld, meiner Meinung nach zu knapp bemessenem Taschengeld und erschmeicheltem Zustupf der Grossmutter in ein paar Minuten in Form von chinesischen Knallkörpern in die Luft lasse. Bäng. Pleite. Bratwurst. Ab nach Hause, später als üblich.

Je älter ich bin, desto weniger zieht es mich zum Landesteg für das Feuerwerk, dafür in die Bar im alten Schopf, die ich auch ein paar Mal selber betrieben habe. Ich begegne alten Bekannten oder gehe nach einem Bier einfach nach Hause.

Es wundert mich, dass nicht der 2. August frei ist. Man hätte es nötiger.»


Michèle Minelli, Schriftstellerin 

«Auch an einem ersten Augusttag kann es passieren, dass man bei einem Spaziergang versehentlich auf eine Waldameise tritt. Die Waldameise: Unsere Waldameise häuft über vermodernden Baumstrünken Hügel auf, bestehend aus Nadeln von Tanne, Fichte oder Kiefer und trockenem Reisig. Diese Hügel wachsen gern auf mehrere Meter an und in ihrem Inneren herrscht eine Durchschnittstemperatur von fünfundzwanzig Grad Celsius. Die Waldameisen sind recht eifrige Insektenvertilger, weshalb man sie zumeist auf Nahrungssuche antrifft […] Diese und weitere Beobachtungen sind zu machen an einem ersten August oder dannzumal sind Berichte darüber nachzulesen in Grzimeks Tierleben, Band 2, INSEKTEN, ©1969 Kindler Verlag AG, Zürich, was einen unmittelbar zum Verlagswesen Zürichs und im Allgemeinen bringt, über das sich an einem ersten Augusttag, aber auch an einem ersten Mai, sehr gut nachsinnieren lässt. Oder an einem ersten Dezember. Dezember geht auch.»


Simone Keller, Musikerin

«Bundespräsident Ueli Maurer hat dieses Jahr mit Schweizerischer Über-Pünktlichkeit bereits am 22. Juli – zehn Tage vor dem Nationalfeiertag – seine 1.-August-Rede auf YouTube hochgeladen, in der er sich an die sogenannte fünfte Schweiz wendet, die insgesamt 760’200 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die er als Visitenkarte der Schweiz bezeichnet und die er an unsere gemeinsamen Werte erinnert: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit und Fleiss.

Ueli Maurer selber hat eine denkwürdige Visitenkarte hinterlegt, als er im vergangenen Mai bei einer Live-Schaltung des CNN nicht in der Lage war, die englischen Fragen zu verstehen und angemessen zu beantworten.

Wenn ich als Künstlerin auf Reisen bin, wird meine Herkunft aus der Schweiz fast immer in irgendeiner Weise thematisiert, kritisiert oder romantisiert. Ich sehe mich aber nicht unbedingt als Visitenkarte, sondern versuche, die Herausforderung und Verantwortung anzunehmen, mich den Perspektiven anderer Länder auf die Schweiz zu stellen. In den letzten Jahren habe ich mich beispielsweise in verschiedenen Ländern Europas und in den USA aufs Glatteis gewagt, indem ich als weisse Pianistin die Musik eines Afro-Amerikaners aufgeführt habe. Ich musste und wollte mich intensiv dem Rassismus-Diskurs stellen und konnte aus den Blickwinkeln anderer Länder sehr viel über diese Problematik lernen, mit der ich nun auch in der Schweiz differenzierter umgehen kann. Für mich waren die Begegnungen mit Menschen anderer Länder und ihren politischen und gesellschaftlichen Sichtweisen nie einfach nur Netzwerk-Pflege, die mit dem Hinterlegen der Visitenkarte einem direkten beruflich-wirtschaftlichen Nutzen dienen sollte, sondern immer im umfassenden Sinne ein Austausch, der meinen Horizont erweitert und meine Wahrnehmung herausfordert.

Oft wird mir im Ausland vorgeworfen, dass ich als Schweizerin gar keine „echten“ Probleme kenne und lediglich unter der Luxus-Käseglocke in Watte gepackt meine Kunst pflege, was natürlich aus einem bestimmten Blickwinkel vollkommen korrekt ist, aber auf der anderen Seite verkennt, dass ich in meiner Arbeit regelmässig mit existenziellen Problemen in der Schweiz konfrontiert bin, wenn ich zum Beispiel mit jugendlichen Gewalttätern gemeinsam ein Konzert einstudiere, mit minderjährigen Asylsuchenden eine Ausstellung entwickle, wenn ich ein Referenzschreiben für ein Härtefallgesuch schreibe oder wenn ich Menschen mit Beeinträchtigungen bei ihren Problemen im Alltag unterstütze.

Zum 1. August wünsche ich mir mehr als die Pflege bürgerlicher Tugenden. Auch wenn gegen Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit und Fleiss im Grunde nichts einzuwenden ist, wünsche ich mir gerade zum Nationalfeiertag zukunftsweisende Visionen für ein globales Miteinander und innovative Ideen für eine nachhaltige Entwicklung!»

 

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