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von Bettina Schnerr, 05.03.2021

Die Kaiserin in uns

Die Kaiserin in uns
Moderne Reiserobe und historisches Vorbild im Dialog: Die aufwändige Kleidung der royalen Gesellschaft hatte schon damals ihren Preis. | © Bettina Schnerr

#Lieblingsstücke, Teil 4: Mit der Ausstellungsreihe „Thurgauer Köpfe – Eine Kaiserin bringt Kohle“ zog ein besonderes Ausstellungsstück ins Napoleonmuseum ein: Eine prachtvolle Abendrobe, die mich beeindruckt und zugleich zum Nachdenken bringt.

Die französische Kaiserin Eugénie war zu ihrer Zeit als Modeikone prägend unterwegs. Es passt also gut, dass sich mit Susanne Draschar eine Expertin für historische Kleidung der Frage angenommen hat, welche Garderobe die Kaiserin bei einem Inkognito-Besuch auf Arenenberg anno 1865 getragen haben könnte. „Einfach, aber umso einnehmender,“ notierte die Thurgauer Zeitung seinerzeit.

Draschars Entwurf, der im Obergeschoss des Schlösschens gezeigt wird, spiegelt die modischen Trends der Zeit und ist zweiteilig gearbeitet: Ein weiter Rock mit leichter Schleppe plus „Taille“, wie damals das Oberteil genannt wurde.

Den tiefen, schulterfreien Ausschnitt mit kurzen Ärmeln durfte man sich allerdings nur abends erlauben. Tagsüber musste etwas hochgeschlossenes her. Daher schneiderte man üblicherweise einen Rock mit mehreren Oberteilen und für dieses Exponat hätte Eugénie mindestens ein passendes langärmeliges Stück besessen.

Ein Traum in Seide, ein Heer von Näherinnen

Draschar griff beim Material zu cremefarbener Reinseidenduchesse, ein Stoff, der Eugénie definitiv würdig gewesen wäre, und changierendem Seidentaft für die grünen Besätze. Anno 1865 wäre der Stoff vermutlich aus Seidenmanufakturen in Lyon gekommen.

Die Kaiserin war freilich der einheimischen Industrie verpflichtet und die Textilindustrie war im 19. Jahrhundert einer der bedeutensten Wirtschaftzweige Frankreichs und ein Exportschlager. Allein für dieses Kleid benötigte Modeexpertin und Museumsführerin Draschar zehn Meter reine Seide und fast 60 Meter Federstahl für die formgebende Krinoline unter dem Rock.

Nun, man kannte damals zwar schon die Nähmaschine, und trotzdem stecken in so einem Kleid gut und gerne 100 Stunden Arbeit. Nach oben offen übrigens, je nach Dekoration und vor allem je nach Stickerei. Die damaligen Modeateliers „beschäftigen Heerscharen von schlecht bezahlten Näherinnen“, wie Draschar sagt, denn die Damen der Gesellschaft zogen sich mehrfach pro Tag um. Eugénie zum Beispiel hatte alleine zur Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 rund 250 solcher Kleider im Gepäck.

Die ganze Pracht: Für so ein Abendkleid aus fast 15 Quadratmetern reiner Seide sind rund 100 Arbeitsstunden nötig. Dabei sind die Stickereien und Raffungen für ein Kaiserinnenkleid noch vergleichsweise dezent. Bild: Manuel Paul

Warum ist das nun ein Lieblingsstück?

Ich bewundere das handwerkliche Können, das in dieser Robe steckt. Ich sehe die Zeit, die aufgewendet wurde und das Können, das dafür über Jahre angeeignet wurde. Da frage ich mich doch, ob wir irgendetwas davon lernen können.

Die „Heerscharen schlecht bezahlter Näherinnen“ gibt es immer noch, selbst wenn wir uns nicht mehrfach am Tag umziehen und ein einziger Koffer für die Reise zum Suezkanal reichen würde.

Warum erkennen wir den Wert einer handgenähten Jeans nicht an und bringen es bei manchen Kleidungsstücken nicht mal auf drei oder vier Anlässe, bei denen wir es tragen? Sind wir ‘ne Kaiserin, oder was?

Video: arttv.ch über die Ausstellung „Thurgauer Köpfe – Eine Kaiserin bringt Kohle“

Termin: Die Ausstellung „Thurgauer Köpfe – Eine Kaiserin bringt Kohle“ ist verlängert worden und noch bis Ende März 2021 im Napoleonmuseum zu sehen.

 

Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst

In unserer neuen Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?

 

Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.

 

Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch, bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.

 

Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!

 

Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Sie werden dann gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden sein.

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