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von Inka Grabowsky, 15.04.2021

Die Retter der bedrohten Baustoffe

Die Retter der bedrohten Baustoffe
Urs Neuhauser, Leiter des Historischen Bauteilelagers des Kantons bei der Arbeit. | © Denkmal Stiftung Thurgau

Wer Baumärkte mag, wird diese Geschichte lieben: In drei Scheunen in Schönenberg an der Thur bewahrt die Denkmal Stiftung Thurgau historisches Baumaterial auf. Und verkauft sie auch an bestimmte Bauherren. Ein Besuch zwischen jahrhundertealten Dielen, Türen und Ziegeln. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Manchmal ist es hier wie im richtigen Leben: Die wahren Schätze erkennt man erst, wenn man genau hinsieht. Rund 140'000 Ziegel sind gerade am Lager des Historischen Bauteillagers der Denkmal Stiftung Thurgau. Das reicht für einige frisch eingedeckte Dächer.

Aber nur einer davon ist anders als alle anderen und darum unverkäuflich: „Ein Feierabendziegel“, sagt Urs Neuhauser, der seit 2019 das Lager leitet. „Das letzte Werkstück des Tages wurde oft gekennzeichnet, mal mit Initialen, mal mit Daten. In diesem Fall weiss man deshalb, dass es aus dem Jahr 1661 ist.“  

Schätze für die Nachwelt erhalten

Um solche Schätze für die Nachwelt zu erhalten, betreibt die Denkmal Stiftung Thurgau, selbst 2004 vom Kanton gegründet, seit 2005 das Bauteillager. Zuvor kümmerte sich die Fachstelle für Denkmalpflege um wertvolle Materialien, die beim unvermeidlichen Abbruch alter Häuser anfielen.

Eine zentrale Sammelstelle jedoch gab es nicht, bis die Scheune der Mühle in Schönenberg renoviert und umgebaut werden konnte. Inzwischen ist das Lager ordentlich gewachsen. Bestände aus St. Gallen und Schaffhausen sind integriert, so dass es nun das „Historische Bauteillager Ostschweiz“ gibt.

Bilderstrecke: Einblicke ins Bauteilelager

Droht einem historischen Haus der Abbruch, kommen sie zum Einsatz

Sobald ein Abbruchgesuch eines historischen Hauses bekannt gemacht wird, bekommt das Team vom Bauteillager Bescheid. Wenn die Bauherrschaft einverstanden ist, erscheinen vor den Baggern die Retter der bedrohten Baustoffe. „Die meisten freuen sich, wenn die Dinge sinnvoll wiederverwertet werden“, sagt Neuhauser.

„Nur manchmal verlangen sie Geld für das Material - und dann muss ich überlegen, ob die Sachen sich so schnell verkaufen, dass es sich lohnt. Das ist selten der Fall.“ Prinzipiell gelte: „Wir kaufen nicht, wir sind die Alternative zur Entsorgung.“ 

Mal braucht man Kraft, mal Gefühl

Der zweite Festangestellte des Bauteillagers, Jörg Affolter, ist meist im Aussendienst und hat sich zum Spezialisten für das schonende Abbauen von Böden, Decken, Türen, Fenstern, Lampen oder eben Dachziegeln entwickelt. Zwei Hilfskräfte, die sich in den ersten Arbeitsmarkt integrieren sollen, gehen ihm zur Hand.

Ob er Täfer demontiert oder Plättli abschlägt, immer muss Affolter überlegen, wie er vorgeht: „Mal braucht man Kraft, mal Gefühl.“ Die wertvollen Materialien sollen schliesslich nicht zu Schaden kommen.

Fünf bis zehn Baustellen schlachtet der Handwerker pro Monat aus. Nicht immer ist der gelernte Forstwirt und ehemalige Seiler sicher, ob er das Richtige vor der Abfall-Mulde rettet. „Dann frag ich meinen Chef“, lacht er. Neuhauser gibt weiter: „Ich bin ja auch kein Historiker, aber im Zweifel kann ich im Museum nachfragen.“

Jörg Affolter, Mitarbeiter im Historischen Bauteilelager, bei der Arbeit. Bild: Denkmal Stiftung Thurgau

Manche Funde wandern auch in Museums-Sammlungen

Eine Konkurrenz zu den Museen bestehe nicht. Gelegentlich aber stossen die Material-Sammler auf Gegenstände, die so aussergewöhnlich sind, dass sie in öffentlichem Besitz bleiben müssen.

Die Altwarenhändler teilen ihre Ware in drei Gruppen ein: Grün, Orange und Rot. „Wenn wir viel von etwas haben, kann jeder es kaufen. Anderes geben wir nur für passende Projekte ab. Oft will auch das Amt für Denkmalpflege wissen, wo etwas abbleibt. Und wirklich wertvolle Kulturgüter werden gar nicht verkauft.“

Wertvolle Kulturgüter werden nicht verkauft, alles andere schon

Konkret wird ein schmiedeeisernes Tür-Gitter nur an jemanden abgegeben, der damit eine alte Haustür mit Fenster wieder in Stand setzen will. Das Stück soll nicht als Deko-Objekt in einem Garten rosten. „Wir verkaufen es deshalb für relativ wenig Geld. Würde man es neu herstellen, müsste man tausend zahlen.“

Liebevoll bemalte Täfer-Bretter, die aus einem Raum einen repräsentativen Saal machen, werden zwar abgegeben, aber nur, wenn sie wieder einen Dachstock in einem historischen Haus schmücken werden. Das riesige Zifferblatt der Kirchturmuhr steht dagegen ebenso auf der roten Liste wie der überlebensgroße Heiligenkopf aus Sandstein. Solche Zeitzeugen werden im Bauteillager für die Zukunft verwahrt.

Detailarbeit: Urs Neuhauser löst einen Haken von der Wand. Bild: Denkmal Stiftung Thurgau

Wie ein Baumarkt für Spezialisten

Im Holzlager wartet ein Stapel Bodenbretter auf seinen nächsten Lebensabschnitt. „Das sind Fichtenbodenriemen“, erklärt Neuhauser. „Als ein altes Haus in der Region abgerissen werden musste, konnten wir die Bretter retten. Nun werden sie im Napoleonmuseum auf dem Arenenberg verbaut. Dort werden nach und nach einige modern renovierte Räume wieder mit altem Holz hergerichtet.“

Dicke Fachwerkbalken gehen an Zimmereien in der Region. Wenn sie schadhaftes Holz austauschen müssen, wissen sie, wo sie passende Ersatzstücke finden. Ein geschnitzter Pfeiler aus dem Jahr 1606, der einst in Tägerwilen ein Haus stützte, sucht noch nach einem besonderen Platz.

Die zukünftigen Dielenbretter für den Arenenberg. Bild: Inka Grabowsky

In manchem Backstein sieht man noch die Handabdrücke der Arbeiter

Im Aussenlager liegen alte Backsteine, zum Teil mit den Handabdrücken der Arbeiter, die sie einst geformt haben. Nur wenige Franken kosten sie pro Stück. Gerade hereingekommen sind drei lange schmiedeeiserene Balkongitter aus Zürich. Der neue Besitzer einer Liegenschaft hatte sie per Mail angeboten, damit sie weiter genutzt werden. Sie werden wohl für 140 Franken pro Meter weitergegeben. Instand setzen muss sie der nächste Nutzer. 

In den oberen Stockwerken der Mühlenscheune fühlt man sich fast wie in einem Antikmarkt, mit dem entscheidenden Unterschied, dass man nicht einfach einkaufen kann, sondern begründen muss, warum man etwas erwerben möchte. Vielleicht einen Bier-Kühlschrank, der tatsächlich noch mit Eis kühlt, ein aufwändig restauriertes Buffet oder Stalllaternen in den unterschiedlichsten Varianten? In der sogenannten Schatzkammer findet man Ware ab fünf Franken.

Vom barocken Portal zur einfachen Stubentür

In einer Abteilung warten unzählige Türen auf ihren nächsten Einsatz: ein prächtiges barockes Portal, das erstmals 1663 in Ermatingen verbaut wurde, ebenso wie einfache Stubentüren vom Bauernhof. Sortiert sind sie nach ihren Merkmalen. Wenn also jemandem fürs Renovieren eine Tür mit vier liegenden Füllungen fehlt, dann kann er sich in Schönenberg durch eine ganze Reihe hindurchblättern. Die passenden Türfallen gibt es im Kleinteillager, gleich neben Emaille-Schildern mit Hausnummern und Kleiderhaken.

Im Sanitär-Bereich sehr gefragt seien die Füssli-Badewannen, so Neuhauser. „Die hier kostet nur dreihundert Franken, aber man muss noch einiges hineinstecken, damit sie wieder schön aussieht.“ Wie Blei im Regal liegt dagegen seit vielen Jahren eine Keramikwanne. Sie ist einfach zu schwer, um überall eingebaut werden zu können. Lavabos, Zahnputzgläser, Armaturen und Tablare sind auch im Angebot.

Historische Kloschüsseln und Lavabos. Für die Funktionsfähigkeit der Armaturen ist der neue Besitzer zuständig. Bild: Inka Grabowsky

Für Kachelöfen gibt es eine Sonderabteilung

Im Laufe der Jahre hat sich im Bauteillager fast automatisch eine aussergewöhnliche Sammlung gebildet. Inzwischen sind hier rund 250 Öfen gelagert. Alle sind vor den dreissiger Jahren gefertigt worden, jüngere werden nicht ins Sortiment aufgenommen. Es gibt prächtige Exemplare mit Jugendstil-Kacheln oder auch die Arme-Leute-Version ganz ohne Keramik. Unter dem Dach der Mühlenscheune sind einige aufgebaut. „Sonst erkennt man ja gar nicht, wie schön sie sind“, erklärt der Betriebsleiter.

Speziell sind die Bleiker Öfen, die von 1702 bis 1869 in Bleiken bei Sulgen von der Hafnerdynastie Germann gebaut wurden. Sepp Kesseli, der Vorgänger von Urs Neuhauser, hat sich der Sammlung angenommen und mit 50-Prozent Pensum begonnen, sie zu dokumentieren. Hier hat das Lager fast musealen Charakter, den allerdings die Profis kaum wahrnehmen. Sie kommen, um Ersatzteile für alte Öfen zu finden.

Die Abteilung für Kachelöfen. Bild: Denkmal Stiftung Thurgau

 

Die Schatzkammer des Lagers: Mit Lampen aus zwei Jahrhunderten. Bild: Inka Grabowsky

Baustoff ja, aber kein Deko-Objekt

An sie würden auch Kacheln verkauft, die Einzelstücke sind, also einsame Überbleibsel einer Ofenverkleidung. Als Deko-Objekte würden sich nicht weitergegeben, auch wenn sich die handgemalten Kunstwerke noch so schön im Regal machten.

Der 55-jährige Neuhauser hat vor seinem Engagement im Bauteillager 37 Jahre als Zimmermann und Polier gearbeitet. Damals kam er gelegentlich als Kunde, um Material zu beziehen. Er hat also die Seiten gewechselt und profitiert nun von seiner Kenntnis der Szene: „Es gibt durchaus auf Renovierungen spezialisierte Architekten, die man immer wieder trifft.“

Warum die Beratung manchmal aufwändig ist

Ansonsten ist die Kundschaft recht durchmischt. Um eine Verwendung für kleine Stallfenster aus Glas zu finden, muss man nicht Bauherr sein, sondern nur Bastler oder Hinterglasmaler. 

Sechs bis sieben Kunden berät Neuhauser durchschnittlich pro Tag. Es kann recht aufwändig sein, bis das richtige Material gefunden ist, denn ein tagesaktueller Katalog fehlt dem Lager. Um alles zu inventarisieren und An- und Verkäufe einzupflegen, bräuchte es wohl noch eine dritte Stelle, seufzt der Betriebsleiter.

Auch alte Schlüssel finden sich im Bauteilelager. Jetzt muss man nur noch das passende Schloss dazu finden. Bild: Denkmal Stiftung Thurgau

 

Das Historische Bauteillager

Historisches Bauteillager
Denkmal Stiftung Thurgau
Neukircherstrasse 3
9215 Schönenberg an der Thur
Telefon 071 642 74 70

 

Im Internet: https://www.historisches-bauteillager.ch/

 

Es gibt keine klassischen Öffnungszeiten. Wenn man Baumaterial braucht, macht man besser telefonisch einen Termin aus.

 

 


 

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