von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 16.09.2019
Echokammer für die Thurgauer Kultur
In der Medienbranche reden gerade alle darüber, ob der Staat Medien mehr fördern sollte. Im Thurgau hat man das mit der Erfindung von thurgaukultur.ch vor 10 Jahren einfach gemacht. Die Geschichte eines Pionierprojektes.
Oft sind es die Dinge, die einen besonders nerven, die einen am meisten antreiben. Wenn man sich zu dick fühlt, fängt man irgendwann mit Sport an. Wenn einem die Schublade mit den Socken und der Unterwäsche jeden Morgen auf die Füsse fällt, wird man sie irgendwann reparieren. Und wenn einem in seiner Nachbarschaft etwas fehlt, dann hat man immer die Gelegenheit selbst initiativ zu werden und die Leerstelle zu besetzen. Das zeigt: Am Anfang von Veränderung steht sehr oft, sehr persönlich erlebter Mangel.
Ungefähr diese Gefühlslage muss man sich auch bei René Munz in der Mitte der 2000er-Jahre vorstellen. Er war damals Chef des kantonalen Kulturamts im Thurgau und er hatte den Eindruck, dem Kulturleben des Kantons fehlte der angemessene Resonanzraum. „Es gab damals schon ein breites Angebot, aber es wurde kaum wahrgenommen“, erinnert sich Munz heute. Woran es aus seiner Sicht besonders mangelte: „Eine zuverlässige und gut funktionierende Kultur-Agenda, an der man sich orientieren kann, was läuft. Und ein journalistisches Magazin, das sich mit dem kulturellen Geschehen im Kanton auseinandersetzt“, so Munz.
„Ein elektronischer Dorfplatz für Kultur, das wäre toll.“
René Munz, einer der Gründerväter von thurgaukultur.ch zur Vision des Projektes
Es war auch die Zeit, in der die Zahlenfixiertheit in den Chefetagen der privaten Medienhäuser dazu führte, dass Kulturberichterstattung für „nice to have“, aber letztlich vernachlässigbar gehalten wurde. Eine Folge davon: Die Berichterstattung über Kultur vor allem in den Tageszeitungen wurde deutlich zurück gefahren. Irgendwann in dieser Zeit traf sich René Munz dann mit Humbert Entress, dem damaligen Präsidenten der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, und heutigen ehrenamtlichen Verwaltungsratspräsidenten der Thurgau Kultur AG, die bis heute thurgaukultur.ch betreibt. Weil auch Entress den Mangel erlebte, entwickelten sie eine gemeinsame Vision: „Ein elektronischer Dorfplatz für Kultur, das wäre toll“, beschreibt Munz die Anfänge.
Aus der Vision wurde eine verwegene Idee: Gründen wir doch unsere eigene Plattform! Es wurde die Geburtsstunde von thurgaukultur.ch - einer mit öffentlichen Geldern aus dem Lotteriefonds (anfänglich 180 000 Franken pro Jahr, heute 240’000 Franken pro Jahr) finanzierten Veranstaltungsagenda samt journalistischem Magazin. Wenn man sieht, wie intensiv in der Medienbranche heute über staatliche Medienförderung diskutiert wird, ist es nicht übertrieben zu sagen, dass dies ein Pionierprojekt war. „Als wir nach etwa drei Jahren Vorbereitungszeit im Mai 2009 mit thurgaukultur.ch endlich online gingen, war das schon ein besonderer Moment“, erinnert sich Humbert Entress.
Kritiker monierten bei der Gründung Wettbewerbsverzerrung
Die Jahre davor waren intensiv, es gab viele Gespräche, viele Beratungen. Natürlich gab es auch Gegenwind und Kritik: „Einige meinten, es wäre Wettbewerbsverzerrung, wenn die öffentliche Hand jetzt ein Medium finanziert“, blickt Humbert Entress zurück. „Wir hätten es auch sofort gelassen, wenn ein privatwirtschaftliches Medium, diese Aufgabe übernommen hätte. Dazu kam es aber nie“, ergänzt René Munz. Am Ende setzten sie sich durch und überzeugten Kritiker ebenso wie die Politik von dem Vorhaben: „Dass das damals gelungen ist, finde ich noch heute erstaunlich. Den Mut, den der Regierungsrat damals mit der Zustimmung zum Projekt bewiesen hat, finde ich immer noch bemerkenswert“, lobt Gründungsvater Humbert Entress.
Am 11. Mai 2009 ist der erste Beitrag auf thurgaukultur.ch erschienen. Verfasst vom damaligen Redaktionsleiter Martin Preisser. Unter dem Titel „Blühende Landschaft“ schrieb er einen Text über die Kulturlandschaft im Thurgau, der auch heute noch seine Gültigkeit hat. Preisser, heute Kulturredaktor beim „Tagblatt“ startete mit einem 20-Prozent-Pensum. Dass sich das Portal unter diesen knappen personellen Ressourcen überhaupt entwickeln konnte, ist bis heute erstaunlich und hat vor allem auch mit dem hohen persönlichen Engagement der Beteiligten zu tun. In 10 Jahren thurgaukultur.ch gab es mit Martin Preisser, Kathrin Spycher, Rolf Müller, Brigitta Hochuli, Patrizia Barbera und seit 2016 Michael Lünstroth, dem Autor dieser Zeilen, sechs verschiedene Redaktionsleiter. Die Geschäftsführung war da etwas stabiler: Mit Thomas Epple, Kathrin Spycher, Simone Hotz und seit 2013 Sarah Lüthy gab es vier Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer.
Bilderstrecke: Wie sich die Seite seit 2009 verändert hat
Wie Brigitta Hochuli die Entwicklung des Magazins massgeblich prägte
Einen ersten inhaltlichen Sprung hat das Magazin vor allem unter Brigitta Hochuli gemacht. Die erfahrene Journalistin kam 2010 vom „Tagblatt“ und kümmerte sich mit Herzblut um die Seite: „Ich kam aus dem gedruckten Tagesjournalismus, hatte zuletzt eine Lokalredaktion aufgebaut. Diesen Drive nahm ich ins Feuilleton mit. Und das war wohl neu im Kulturbereich. Es bedeutete Aktualität (Mitteilungen der Regierung, täglicher Medienspiegel), neue Textgefässe (Kurzinterviews, Kolumne, Blog/Kommentar) Fokussierung auf die Menschen (Arbeitsplatz Kultur), irgendwann Video und Social Media“, erinnert sich Hochuli. Ihr Konzept kam an: Die Zugriffszahlen stiegen, in den Kommentarspalten wurde mitunter intensiv diskutiert.
Trotz dieser Entwicklung blieben von aussen betrachtet auch immer Vorbehalte und Zweifel an der journalistischen Unabhängigkeit der Seite. Wie sollte es auch anders sein bei einem Medium in dessen Verwaltungsrat Vertreter von Kanton und Kulturstiftung sitzen? War der Einflussnahme da nicht Tor und Tür geöffnet? Wie sollte es in dieser Gemengelage gelingen, die Unabhängigkeit zu wahren? Dabei war die Lösung, die der Anwalt Humbert Entress dafür erdacht hatte, durchaus klug: Er gründete die gemeinnützige Thurgau Kultur AG, die eben nicht direkt beim Kanton angegliedert war, sondern unabhängig davon agieren sollte. So genau schaute von aussen aber niemand drauf. Was viele eher sahen war: Da schafft sich ein Kanton sein eigenes Medium für möglichst freundliche Berichterstattung. In der „Weltwoche“ erschien 2011 ein Text unter der Überschrift „Kauf eines Kritikers“, der sich mit dieser Entwicklung befasste. thurgaukultur.ch wurde darin als ein Beispiel von mehreren erwähnt.
Ein Redaktionsstatut gegen die Zweifel an der Unabhängigkeit
Die Konstruktion war wie sie war. Ganz gleich wie oft man betonte, dass es keine Einflussnahme gebe, Zweifel blieben. Der Redaktion blieb nichts anderes übrig als mit inhaltlicher Arbeit zu überzeugen und so die Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen. „Am 1. Dezember 2011 berichtete ich als erste über die Pläne zu Sanierung und Ausbau des Kunstmuseums Thurgau, stellte erste kritische Fragen an Robert Fürer. Es sollte dauern, bis das Thema auch andere Medien interessierte. Für mich persönlich war Standfestigkeit gefragt. Ich wusste, dass meine Hartnäckigkeit nicht überall gern gesehen war“, erinnert sich Brigitta Hochuli. Sie blieb standfest - zum Wohle der Glaubwürdigkeit der Seite.
Die klarste Antwort auf die Zweifel an der Unabhängigkeit haben die Macher schliesslich im Mai 2019 gegeben. Mit der Verabschiedung eines Redaktionsstatut wurden die Verhältnisse gerade gerückt: „thurgaukultur.ch ist ein überparteiliches, unabhängiges Online-Magazin. Die Redaktion agiert insbesondere frei von äusserer Einflussnahme durch die Aktionäre, durch Einzelpersonen, politische Parteien, Unternehmen, Institutionen, öffentliche Einrichtungen, Lobbys oder religiös und ideologisch orientierte Gruppen.“
Trotz Problemen - das Projekt wurde nie aufgegeben
Dass in 10 Jahren nicht alles reibungslos lief, ist auch klar. Das Projekt hatte immer wieder zu kämpfen mit dem eng gestrickten Budget, ein Relaunch wurde 2014 deutlich teurer als erwartet und brach thurgaukultur.ch beinahe das Genick, auch inhaltlich gab es mal Schwächephasen. Aufgegeben wurde das Portal aber trotzdem nicht, eher erlaubte man thurgaukultur.ch ein langsames aber stetiges Wachstum: Dass dies gelungen ist, liegt zum einen an der Integrität der Beteiligten und, so viel Selbstbewusstsein darf sein, der überzeugenden inhaltlichen Arbeit.
„In den vergangenen sechs Jahren haben wir uns auf unser Kerngeschäft konzentriert, unsere Strukturen professionalisiert, bestehende Partnerschaften gestärkt, das Netzwerk vergrössert, die finanzielle Ausgangslage verbessert und ganz wichtig, unsere Webseite technisch auf den neuesten Stand gebracht. Damit hat thurgaukultur.ch an Profil gewonnen“, ist Geschäftsführerin Sarah Lüthy überzeugt.
Seit dem Relaunch 2018 steigen die Zugriffzahlen kontinuierlich
Heute lautet das Selbstverständnis der Seite so: In der Agenda soll das kulturelle Veranstaltungsleben des Kantons (und seiner Ränder) möglichst umfassend abgebildet werden, im Magazin gibt es eine unabhängige, vertiefte, journalistische Auseinandersetzung mit den anliegenden Themen. Hier geht es jeden Tag aufs Neue darum, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren. Die Leser scheinen das zu goutieren: Seit der Neugestaltung der Seite Ende Mai 2018 steigen die Zugriffszahlen stetig: Aktuell gibt es mehr als 30’000 Seitenaufrufe pro Monat, auch die Zahl der Sitzungen und Nutzer steigt kontinuierlich. Auf Facebook wurde die Zahl der Likes von 2016 bis heute fast verdoppelt auf 2704 (weitere Zahlen am Ende des Textes in der Infobox).
Wenn man so will, wird damit auch eine Überzeugung belohnt, die das Projekt von Anfang an prägte: „Wir müssen inhaltlich unabhängig sein. Sonst sind wir nicht glaubwürdig und können es gleich lassen“, fasst René Munz diesen Ansatz zusammen. Blicken die beiden Gründungsväter Munz und Entress heute auf ihr „Baby“, dann sind sie sehr zufrieden: „Es ist wirklich grossartig, was aus thurgaukultur.ch geworden ist. Die Seite ist aus dem Kulturleben des Kantons nicht mehr wegzudenken und das ist eine tolle Leistung auf die man stolz sein kann“, lobt Humbert Entress.
Woher unser Geld kommt und wie viele Leser wir haben
Zugriffszahlen: Die Seite thurgaukultur.ch verzeichnet eine gute Entwicklung bei den Zugriffszahlen. Im Vergleich zum Durchschnittswert des Vorjahres ist die Zahl der Sitzungen im ersten Halbjahr 2019 um 41 Prozent, die Zahl der einzelnen Nutzer um 43 Prozent gestiegen. Die weitere Entwicklung in diesem Jahr gibt Hoffnung auf mehr: Im August 2019 gab es 31’741 Seitenaufrufe, 18’477 Sitzungen und 14’865 einzelne Nutzer. In Vergleich zum Durchschnittswert des gesamten vergangenen Jahres sind das Steigerungsraten zwischen 63 und 77 Prozent. Ein Nutzer kann dabei mehrere Sitzungen haben, deshalb unterscheiden sich die Zahlen.
Finanzierung: thurgaukultur.ch wird im Wesentlichen mit Geldern aus dem Lotteriefonds finanziert. Über eine Leistungsvereinbarung (Dauer: 4 Jahre) mit dem Kulturamt des Kantons erhalten wir 190’000 Franken im Jahr. Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau zahlt jährlich 50’000 Franken pro Jahr. Weitere Einkünfte stammen aus Kulturpartnerschaften (12’000 Franken pro Jahr) und Anzeigeneinnahmen (10’000 Franken pro Jahr).
Personal: Fest angestellt bei thurgaukultur.ch sind Geschäftsführerin Sarah Lüthy (50-Prozent-Pensum), Redaktionsleiter Michael Lünstroth (60-Prozent-Pensum) und Agenda-Redaktorin Anja Mosima (12-Prozent-Pensum). Im Magazin arbeiten wir mit einem Pool von freien Korrespondentinnen und Korrespondenten zusammen. Eine Übersicht zu aktuellen und früheren Autorinnen und Autoren finden Sie hier. Unser Budget für freie Korrespondenten liegt bei 30'000 Franken im Jahr bzw. 2500 Franken pro Monat. Erst in diesem Jahr hatten wir dieses Budget von 2000 auf 2500 Franken erhöht. Der Verwaltungsrat arbeitet ehrenamtlich. Neben dem Präsidenten Humbert Entress gehört ihm auch Kulturamtsleiterin Martha Monstein an.
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