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von Andrin Uetz, 24.09.2019

Ein Schlagerpoet aus Amriswil

Ein Schlagerpoet aus Amriswil
Mit Bon Jovi und Udo Jürgens fing alles an: Der Schlagersänger Roger de Win. | © zVg

Mit Bon Jovi und Udo Jürgens fängt alles an: Wie der in Amriswil lebende Roger de Win zum Schlagersänger wurde.

Roger De Win war schon an zehn Bon-Jovi-Konzerten, und bereits an dreizehn Konzerten von Udo Jürgens. „Das zeigt, wie wichtig die beiden für mich sind”, sagt er beim Gespräch mit thurgaukultur.ch in einem Café in Amriswil, und gerät ins Schwärmen. „Niemand macht heute so aktuellen und gleichzeitig berührenden Schlager, wie ihn dazumal Udo Jürgens verkörpert hat.” 

Bon Jovi hingegen spiegelt sich in De Wins Präferenz für rockige Arrangements. „Das macht heute jeder, aber als ich anfing mit Schlager, da waren Figuren wie Matthias Reim eher die Ausnahme, und dieser hat sich selbst nicht mal als Schlagersänger gesehen.” Man erinnere sich: „Verdammt ich will Dich / ich will Dich nicht / Verdammt ich brauch Dich / Ich brauch Dich nicht …” Schlager oder Rock, in jedem Fall eine Musik, nah am Leben und ebenso voller Widersprüchlichkeiten. 

Lieber ohne Orangenlikör

Wer bei Schlager an Discofox, Schunkel-Schunkel und klebrige Liköre denkt, liegt bei Roger De Win eher daneben. Er ist ein Mann der ruhigeren Töne, der sanften Balladen. „Ich möchte die Leute berühren, und sie dort abholen, wo sie sind.” Inspiration findet De Win in seinem Freundeskreis, im Alltag, beim Spaziergang durch sein Dorf. 

„Es gibt so viele Geschichten da draussen!” Sein “Wenn Du willst, dass ich geh” ist inspiriert von Scheidungen aus  seinem Umfeld: „Noch vor einigen Jahren haben viele Leute in meinem Freundeskreis geheiratet, und jetzt kommen bereits die ersten Scheidungen. Unsere Generation gibt zu schnell auf; neues Profilbild, neue Freundin. Doch die Probleme bleiben die Selben. In dem Stück geht es darum, dass wenn man sich trennt, man es mit Haltung machen sollte.” Und De Win fügt an: „Keiner kann mit Musik die Welt verändern, aber man kann die Leute mit Musik abholen, etwas auslösen auf der Gefühlsebene.” 

Video: "Wenn Du willst, dass ich geh” (2019)

 

Aber bitte mit Sahne! 

Ein bisschen Rock’n’Roll muss sein, die Leute wollen bei aller Sentimentalität ja auch unterhalten werden. Dass Roger De Win auch fetzig kann, zeigt seine neuste Single „Unglaublich Gut”, eine selbstironische Nummer über die trügerischen Glücksversprechen unserer Konsumwelt. Gesellschaftskritische Texte gehören bei De Win genauso ins Programm wie gefühlsbetonte Balladen. Und auch hier knüpft er bei seinem Idol Udo Jürgens an, nennt etwa den Titel „Ein ehrenwertes Haus” als Beispiel für eine Kritik an der Doppelmoral der Gesellschaft. Es ist inspiriert von den argwöhnischen Augen der Nachbarn in dem Mietshaus, wo Jürgens mit seiner Partnerin in wilder Ehe wohnte, was dazumal noch illegal war. Diese „guten” Nachbarn aber haben selbst auch keine reinen Westen, schlagen ihre Frauen, gehen fremd usw. 

„Der Schlager von heute sollte sich wieder mehr dem Zeitgeist widmen, aber leider beschränken sich Helene Fischer, Andreas Gabalier und Co. hauptsächlich auf gute Stimmung und Party. Die Leute wollen in schwierigen Zeiten abgelenkt werden, und der Schlager bietet ihnen eine Heimat, eine Geborgenheit.” Diesem Bedürfnis will auch Roger De Win nachkommen, aber möchte er dabei nicht ganz auf die kritischeren Töne verzichten. Oder um einen weiteren Songtitel seines Idols zu zitieren: De Wins Songs sind zwar gesellschaftskritisch, „aber bitte mit Sahne!” Gute Stimmung und soziales Gewissen müssen sich nicht ausschliessen, so die Devise. 

Video: “Unglaublich Gut” (2019)

Beiss nicht gleich in jeden Apfel… 

In einer Zeit der Volkstümmelei, des aufkommenden Nationalismus in Europa, und einer Schweiz, die mit Plakaten von mit Regenwürmern durchsetzten Äpfeln zugekleistert wird, ist es gut, dass es noch Thurgauer gibt, die wissen, dass Äpfel erst dann ungeniessbar sind, wenn sie braun werden. Es ist eine feine Linie zwischen Volksverbundenheit, grossen Gefühlen und Faschismus. 

Wie leicht apolitische Schlager instrumentalisiert werden können, zeigt zum Beispiel die parodistische Künstlerin Hyäne Fischer mit „Im Rausch der Zeit”. Der Song bedient sich ganz und gar einem Schlagervokabular, wie sie genauso bei Gabalier und Helene Fischer gefunden werden kann. Und doch lässt einem das an Eva Braun am Obersalzberg erinnernde Video leicht erschaudern. 

Video: Hyäne Fischer mit “Im Rausch der Zeit” (2018)

Schlager mag apolitisch sein, genauso wie Lale Andersens „Lili Marleen” nicht eigentlich für die Propaganda geschrieben wurde. Es wurde mehr oder weniger zufällig vom besetzen Radio Belgrad ausgestrahlt, zur Zeit des Deutschen Angriffs auf Griechenland, und avancierte zum Nazi-Hit.

Video: Lale Andersen mit “Lili Marleen” (1938)

Und wieder steht Udo Jürgens rettend zur Stelle, wenn er im Lied „Griechischer Wein” mit dem Schicksal von Gastarbeitern sympathisiert. Es bleibt zu hoffen, dass der Schlager eine völkerverbindende Musik bleibt, und nicht zur Spielbühne der neuen Rechten verkommt. Immerhin hat Roger De Win für sein neues Programm einige Texte von Udo Jürgens ehemaligen Textschreiber angeboten bekommen. Vielleicht gibt es ja bald griechischen Wein in neuen Schläuchen? 

Video: Udo Jürgens mit “Griechischer Wein” (1975)

Das ist Roger de Win

Roger De Win lebt in Amriswil, wo er nicht nur aufgewachsen ist, sondern auch Freunde und Familie hat und Inspiration findet. Er absolvierte an der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen eine Ausbildung zum Primarlehrer, unterrichtete einige Jahre, um sich dann im Journalismus weiter zu bilden. Er arbeitet als Radiomoderator und ist seit drei Jahren Schlagerexperte bei Radio SRF, wo er einmal im Monat eine kritische Sendung zur Branche gestaltet. Bereits in seiner Patentarbeit (Maturaarbeit) am Seminar Kreuzlingen beschäftigte er sich mit „den Fassaden des Musikbusiness”, wobei er sowohl Glamour und Schattenseiten der Branche beleuchte, sowie eigene Lieder komponierte und mit einer Band zur Aufführung brachte inklusive CD Aufnahmen.

 

Roger De Win live – das Abschlusskonzert seiner Tour 2019: Am Freitag, 8. November tritt der Sänger im Rahmen der «Friday Night Music»-Konzerte im «Panem» Romanshorn auf. Das spezielle Konzert dauert ca. von 20.30 Uhr bis 23 Uhr.

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