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von Brigitte Elsner-Heller, 07.03.2022

Ein Tag mit Opa

Ein Tag mit Opa
„Alle Kinder mögen Berliner.“ Opa hat es doch immer gewusst. Das versöhnliche Schlussbild der Inszenierung von Agnes Caduff. (Von links: Sonia Diaz, Roland Lötscher und Ivan Georgiev) | © Lukas Fleischer

«Mehl in der Schublade» hatte im Theater Bilitz Premiere. Im Jugendstück von Flo Staffelmayr zeigt sich eine Themenvielfalt, die viel auf einmal verhandeln will. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Umzugskisten überall, beschriftet mit dem, was drin ist, was mit ins Heim soll. Aber auch beschriftet mit „Brocki“ – was noch etwas eindringlicher nach finalem Countdown klingt. Die harten Beats haben es gerade schon angekündigt, dass hier nämlich jugendliche Leben mit dem Leben des dementen Opas in Beziehung gesetzt werden sollen.

Zunächst ist da Julian, der gerade noch Kisten geschoben hat und vergeblich versucht hatte, seinen Vater zu erreichen. Er wendet sich direkt ans Publikum, um den Rahmen des Geschehens klar abzustecken. Es geht nämlich jetzt um einen Tag mit Opa, der ins Heim umziehen soll, da er dement ist und sich selbst nicht mehr versorgen kann.

Der dramaturgische Kniff des Rückblicks

Julian ist als Erzähler derjenige, der den dramaturgischen Kniff des Rückblicks einführt und quasi erklärt – wie auch gleich darauf seine etwas ältere Schwester Sophie, die sich ebenfalls vorstellt und sich gleichzeitig an ihren Matura-Stress erinnert fühlt. Schliesslich: Vorstellung Opa. Ein älterer Herr mit Schiebermütze, der still und brav auf einem Rollator sitzt, wie ausgestellt hinter einer der Schwingtüren, die die Bühne mit der Hinterbühne beziehungsweise dem „Off“ verbinden.

Opa stellt sich nicht selbst vor, denn Opa wird wohl nicht mehr die Zeit für einen Rückblick auf diesen Tag bleiben. Sein Part muss in diesem Zusammenhang also ausfallen. Ach, Opa!

 

Opa (Roland Lötscher) sortiert aus: Manche Bücher sind nämlich „gefährlich“. Julian (Ivan Georgiev) und Sophie (Sonia Diaz) sind verblüfft, als die Bücher fliegen. Bild: Lukas Fleischer

Opa irrt durch die Szene

Der Einstieg in Flo Staffelmayrs Jugendstück „Mehl in der Schublade“ gelingt schön mit dem Theater Bilitz im Theaterhaus Weinfelden. Quasi zum – wie auch immer vergangenen – Leben erweckt, träumt sich Opa (Roland Lötscher) in einen Tanz mit Hannah, seiner Jugendliebe. Nur dass Hannah nun eigentlich seine Enkelin Sophie (Sonia Diaz) ist, die sich allerdings auf das Spiel einlässt und das Tanzbein mit ihm schwingt.

Doch schon irrt Opa wie ein Gespenst durch die Szene, weiss nicht, wohin er eigentlich gehen soll, während Julian und Sophie nicht nur die Abwesenheit des vielbeschäftigten Vaters beklagen, sondern sich auch untereinander mehr als ein Scharmützel liefern.

Sophie – schon allein durch ihren Namen dem Verstand verpflichtet – scheint als die Ältere den „kleinen Bruder“ früh unter die Fittiche genommen zu haben, zumindest gibt sie ordentlich Kontra, wenn der halbwüchsige Beatboxer vor lauter Coolness nicht mehr weiss, wohin der Weg ihn führen soll.

Geschichte statt Geschichten

Opa dagegen greift unvermittelt zur „Waffe“, zu einem Bohrer, weil er sich plötzlich angegriffen fühlt. Was ist, was war mit Opa? Welche Bedeutung hat das Lied „Lili Marleen“ für ihn, das Soldaten im Zweiten Weltkrieg begleitete?

Wieso gerät Opa in Panik, will ganz schnell Bücher entsorgen, die verboten waren? Und der Tanz mit Hannah, den Julian sofort auf seinem Handy festhalten muss („So viel real life bekommt man doch selten“). Hannah war Jüdin, Freund Baldur wurde zum Nazi.

 

Opa muss sich verteidigen, auch wenn nur seine Enkel da sind. Gegen die Feinde in seinem Kopf, gegen Nazis, gegen Russen. (Von links: Ivan Georgiev, Sonia Diaz und Roland Lötscher). Bild: Lukas Fleischer

Wenn Besserwisserei auch nerven kann

Während der beatboxende Julian sich nicht nur als pubertierendes Monster ohne Empathie zeigt, sondern sich durch seine eben auch kreative Art seinem Opa vergleichsweise unbefangen nähern kann, zeigt sich bei Sophie, dass Verstand und Mitgefühl durch den Begleitfaktor Besserwisserei zugleich nerven können.

Einzig Opa kann eigentlich machen, was er will – falls sein Kopf noch weiss, was er will. Immerhin kann er argumentieren, dass seine Zucker- und Mehlvorräte (sämtlich abgelaufen, versteht sich) vor allem einem guten Zweck dienen. Denn: Alle Kinder mögen Berliner, und die muss man jederzeit backen können.

Die Schauspieler:innen auf der Bühne sind gefordert

Sonia Diaz, Ivan Georgiev und Roland Lötscher müssen schon (unter der Regie von Agnes Caduff) auf ihre Schauspielkunst bauen, denn die Bühne – als mobile Einrichtung für Klassenzimmer-Tourneen geplant – bietet wenig Möglichkeiten zur Veränderung. Da müssen schon kleine Umdeutungen reichen.

Und während der unausstehliche Bruder sich auch als witziger Gesellschafter zeigen darf, der, wenn er vor das Publikum tritt, seltsam geläutert erscheint, bleiben Sonia Diaz weniger Optionen, ihre Figur interessanter zu gestalten. Wobei Opa sich „naturgemäss“ in allen Facetten zeigen darf.

 

Enkelin Sophie stellt sich den Tatsachen (Sonia Diaz), während Opa und Bruder Julian schon mal ihrer eigenen Wege gehen (im Hintergrund Roland Lötscher und Ivan Georgiev). Bild: Lukas Fleischer

Zum Thema „Jugendstück“

Und spätestens da wäre man beim Stück selbst angekommen. Zu „Jugendstück“ gehört schon fast der Begriff „Theaterpädagogik“ (die auch das Bilitz umfassend betreibt). Dass die Pädagogik aber nicht begleitend neue Räume öffnet, sondern im Stück selbst schon so viel davon anklingt, muss man mögen. Oder eben auch nicht so unbedingt.

Wäre das Thema Jungsein und Altwerden konsequent in den Mittelpunkt gerückt worden, die Zeiten grosser Veränderung im langen Fluss des Lebens, wäre das wirklich spannend gewesen.

Das Stück will zu viel, es wirkt überladen

Aber wieso muss mit den nicht nur träumerischen sondern auch traumatischen Erinnerungen Opas gleich die Nazizeit und der Holocaust noch mit verhandelt werden? Wobei dieser Einwand keinesfalls bedeuten soll, dass dieses Thema ad acta zu legen ist. Ganz im Gegenteil (autokratische Systeme sind die Hölle, wie könnten wir das ignorieren?).

Nur ist Flo Staffelmayrs Stück „Mehl in der Schublade“ so überladen, dass viele Aspekte im grossen Ganzen untergehen. Abgesehen davon, dass es nicht realistisch wirkt, dass eine Elterngeneration so komplett ausfällt. Schliesslich: Wann soll denn „der Tag mit Opa“ stattgefunden haben, um historisch den Zeitrahmen noch einzuhalten zu können? Wie ist dann die Anbindung an das Heute?

Junge Gesichter im Publikum? Eher rar

Die Theaterpädagogik wird sich vielleicht dann doch noch einige Fragen stellen lassen müssen oder sie gleich selbst noch mit aufwerfen. Wenn die Produktion bei den Jugendlichen „ab 13 Jahre“ einmal angekommen sein wird. Bei der Premiere waren junge Gesichter eher rar.

Video: arttv.ch über die Produktion „Mehl in der Schublade“

 

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