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von János Stefan Buchwardt, 11.09.2019

Global heimatlos

Global heimatlos
Jochen Kelter: «Leben aus zweiter Hand. Und so soll es ja sein, wo es nach den Herren der Welt geht (und nach denen geht alles), dass wir global heimatlos sind, jederzeit und überall zu gleichen Bedingungen verfügbar.» | © János Stefan Buchwardt

Sorgfältig gestaltet, aber mit larmoyantem Blick auf Entwicklungen und Brüche rund um Literatur und Gesellschaft: Das neue Buch von Jochen Kelter führt den poetischen Titel «Sprache ist eine Wanderdüne». In dieser seiner fünften im Waldgut Verlag erschienenen Publikation dokumentiert der Autor sich mitunter sauertöpfisch und multidimensional. Über acht biographische Essays aus den Jahren 2005 bis 2018 präsentiert er einen zeitkritischen Fächer.

Zu Beginn ein persönlicher Rückblick auf die ersten fünf Jahre Bodman-Literaturhaus in Gottlieben, die Jochen Kelter massgeblich und parallel zu den Gründungen der Literaturhäuser in Zürich und Basel mitgeprägt hat. Erinnerungen, anekdotenhaft eingestreut, zuweilen rührselig reflektiert. Die Mischung aus Tagebuch- und Sammelalbumcharakter wirkt unentschieden, als Einstieg mag sie die Leserschaft leichtfüssig abholen. Kelter fragt und beantwortet: Ob das gut gehen würde, Literatur auf dem Land? Die Gewöhnungsbedürftigkeit des thurgauischen Literaturhauses wird zum Thema. Am Ende, überraschend unvermittelt, gehörige Zivilisationsschelte auf Raumplanung, Nachverdichtung und Zersiedlung, um schliesslich das kleinodhafte Gottlieben und den Erhalt des Bodmanhauses hochleben zu lassen: «Ein Idyll. Ein Schein. Wie die Literatur.»

Bosnische Stimmen

Der zweite Streich berührt als ausgefeilter Panoramabericht über den ganze Autorengenerationen prägenden Einfluss der Zeit der jugoslawischen Kriege der 90-er Jahre. Kelter, damalig Leiter des Literaturhauses des Kantons Thurgau, skizziert, unter welchen Umständen etwa der bosnische Dichter Izet Sarajlić, Symbolfigur des zivilen Widerstandes gegen die serbische Belagerung, 1995 an die Frauenfelder Lyriktage geholt werden konnte. Texte bosnischer Autoren werden zitiert und kommentiert, Zusammenhänge mit Kelters Lebensgeschichte aufgezeigt. Auch hier ein unausgewogener Mix. Anfangs sehr persönlich gehaltene Ausführungen, um dann Platz für eigentliche Buchkritiken zu machen. Ins Visier geraten Namen wie Abdulah Sidran, Lyriker und Essayist, der Literat Dževad Karahasan oder der bosnische Schriftsteller und Dramatiker Nenad Veličković.

Aus «Verortung»: «Biographien, Lebensläufe altern wie Körper und Geist. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Biographien nicht zu früh als abgeschlossen betrachten und gleichsam verlassen.» Bild: János Stefan Buchwardt

In Sachen Urheberrecht

Mit «Zwischen Deregulierung und Konsumismus» ist der dritte Essay überschrieben, der einen Abriss der Geschichte des Urheberrechts verspricht. Das ausgesprochen fachspezifische Unternehmen mag nicht zuletzt auch Kelters Aufgabenbereich als langjähriger Präsident der Schweizer Verwertungsgesellschaft «Pro Litteris» geschuldet sein. Leutselig beichtet er: «Jeder erliegt zu einer bestimmten Zeit seines Lebens einem Spielteufel, einer Droge oder einem seltsamen Eifer. Der meine war das Urheberrecht und seine nationalen und internationalen Organisationen.» Seine abschliessende Wunschliste für die Ausgestaltung des Urheberrechts, gerade auch mit Blick auf die Schweiz, ist kurvenlos: Annahme der EU-Standards, eine Bibliotheksabgabe, ein Agieren frei von jeder politischen Bevormundung etc.

Hybrid verortet

Auf den folgenden neun Seiten, denen der Titel des Buches entstammt, läuft der Autor zur wehmütigen, aber ernstzunehmenden Hochform auf: «Verortung». Hier findet der sich «in hybrider Sprache» bewegende Denker für einmal den kongenialen Literaten in sich selbst. Gezielt erfährt die Auseinandersetzung mit Heimat und Sprache provokative Abrundung. «Im Halbschlaf oder einer Art Wachtraum» fragt sich der in Deutschland, Frankreich und der Schweiz Lebende, was ihm welcher Ort bedeute. Über Selbstreflexion eines Ruheständigen eröffnet sich sein Gedankenkaleidoskop und mündet in düsterem Resümee: «… die Diktatur der Gleichmacherei und Verwüstung im buchstäblichen Sinn, die gleichmachende Globalisierung von Konsum und Profit haben mich heimatlos gemacht.» Auch auf dem Feld der Kunst sinke man in Treibsand ein. Nischen seien die Rettung.

Aus «Dankrede für einen Preis, den ich nie bekommen habe»: «Ein Autor entwirft das Bild einer Epoche, der seinen oder einer früheren. … Er erfindet das Leben künstlich noch einmal, diesmal aber nachvollziehbar und dechiffrierbar.» Bild: János Stefan Buchwardt

Sich selbst im Weg

Eine Dankrede für einen Preis, den Bodensee-Literaturpreis, den er nie bekommen habe, steht an fünfter Stelle. «Ein kleines Kultur- und Sittenbild». Wieder viel Biografie und Schelte, wenn Kelter – selbst 1982, 84 und 87 ausgezeichnet – das Preisträgertum an sich und insbesondere den Literatur-Nobelpreis unter die Lupe nimmt. Wieder und mehr und mehr verpuffen auch die allgemeingültigen Aussagen aufgrund ihrer literarischen Machart. Bei aller Kunst, wortreich Konsumismus- und Agglomerationsgeschwüre zu beklagen, bei aller möglichen Berechtigung dessen, was geschrieben steht und angeprangert wird, der Schleier der Larmoyanz vernebelt die grundlegende Aufnahmefreudigkeit des Lesenden. Wie das Nutzbringende eines Textes hier von eigener Hand konterkariert wird, bewegt sich auf tragischem Niveau.

Lebenslauf als Provokation

Quintessenz des sechsten Textes (wie schon in «Verortung»): «Ein Individuum ist kein geschlossener Kreislauf mit einer stringenten, auf unverrückbaren Prämissen beruhenden Biographie, vielmehr wechselnden Konjunkturen der Zeitläufte unterworfen, keine Einheit zudem von Sein und Bewusstsein.» Und in spezieller Ausrichtung auf den von Kelter verehrten Lehrer und Mentor, den Konstanzer Romanisten Hans Robert Jauss, dessen Nazi-Überzeugung und Mitgliedschaft in der Waffen-SS aufgedeckt wurde: «Man sollte der romantischen Vorstellung widerstehen, das Urböse eines Menschen ausfindig machen zu wollen, der den ersten Teil seines Lebens mit einer verbrecherischen Karriere begonnen hat, und zu glauben, dieses Böse könne nicht verschwunden, müsse also noch irgendwo zu bergen sein.» 

Aus «Jetzt mache ich einen Satz»: «Ich wohnte auf dem Land. In der Nähe der Stadt. Ich lebte im Ausland. Die Stadt war im Inland. Ich lebte im Inland, die Stadt wurde zum Ausland.» Bild: János Stefan Buchwardt

Ach was, Scheissepoche

Wenn Kelter im vorletzten Paradestückchen einen oder mehrere Sätze macht, kommt das anfangs bocksprungartig daher. Das plakative Herziehen über Regionales – das Zentrum seines Sturms liegt über dem Bodensee, mehrheitlich über Konstanz – ist als Auftakt furios und erschreckend. Völlig unnötig legt er damit eine irritierende Fährte, die im Widerspruch zum folgenden aufschlussreichen und eleganten Erzählen steht. Beinahe alles sei in Konstanz schiefgelaufen, seit man Jan Hus verbrannt habe. Er meint, dem Wandel hin zu einer «Scheissepoche» auf die Spur gekommen zu sein. Warum so bemühend harsch? Wenn er dann, dezidiert, detailreich und kunstvoll verwoben, Erlebnisse und Erkenntnisse seines Lebenslaufes aufreiht, lässt er uns an interessanten persönlichen Eindrücken teilhaben, die, in zügigem Rhythmus rapportiert, durchaus fesseln.

Alles andere als ein Revoluzzer

Zu guter Letzt (siehe auch Zitat unten), überschrieben mit «Tod der Literatur», Schlaglichter auf die Geschichte des Verlagswesens, auf den neoliberalen Umbau des gesamten Kultur- wie des Literaturbetriebs, wie Kelter es nennt. – Die Publikation «Sprache ist eine Wanderdüne», die unter «waldgut lektur essays nr. 57» geführt wird, hinterlässt Fragen: Warum, aus wahrhaftigem Moralanspruch heraus, nicht mehr Mut machen, anstatt harsch tönenden Abgesang und die eigene Person zu zelebrieren? Sich im Rückzug selbstreferenziell aufzubäumen, wirkt unglaubwürdig und bisweilen planlos und närrisch. Sich zusammengewürfelt mit der Rolle des lautstark resignierenden Miesepeters zu brüsten, macht nicht nur preisunwürdig. Geistreich funkelnd und intellektuell keifend, wie passt das zusammen? Ein altersmüder Homme de Lettres, der auf diesem seinem (eisigen) dritten Weg ins Rutschen kommt?

Aus «Tod der Literatur»: «Was die vorschnellen intellektuellen Aktivisten der 1968er-Jahre nicht geschafft haben, …, was der sozialistische Realismus nicht geschafft hat, …, das hat die alles überwältigende globale Ökonomie des Kapitalismus auch auf einem Nebenschauplatz erreicht. Kunst und Literatur in einen alle Qualität (samt ihren unterschiedlichen Kriterien) nivellierenden Marktplatz von Konsum, Entertainment, Konsens und scheinheiliger Selbstbestätigung zu verwandeln.» Bild: János Stefan Buchwardt

 

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