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von Inka Grabowsky, 18.06.2025

Hexen, Diebe und Gesindel

Hexen, Diebe und Gesindel
Die nette Kräuterfrau Kunigunde Zürcher (gespielt von Vreni Stephan), die vor dem Schloss Heilkunde-Tipps gab, wurde verhaftet. |

Eine neuer szenischer Stadtrundgang in Frauenfeld informiert über Recht und Gerechtigkeit im Thurgau zur Zeit der Landvögte. Wer bisher glaubte, früher sei „die gute alte Zeit“ gewesen, wird eindrücklich eines Besseren belehrt. (Lesezeit: 6 Minuten)

 

„Die Menschen im 17. Jahrhundert hatten mindestens drei grundlegende Probleme“, erklärt Bettina Duttweiler: „Die Pest, die dreimal im Thurgau grassierte, die Unsicherheit durch den Dreissigjährigen Krieg und die klimatisch schwierigen Bedingungen. Die kleine Eiszeit mit harten Wintern und verregneten Sommern vernichtete Ernten. Das wissen wir heute – damals schob man die Schuld auf den Teufel und auf Hexen, die mit ihm im Bunde waren.“ Unnötig zu sagen, dass es immer alleinstehende arme Frauen waren, die beschuldigt und verurteilt wurden.

„Rechtsgleichheit wie wir sie heute haben, ist eine Errungenschaft“, betont die Historikerin, die als Museumsvermittlerin seit Jahren Führungen organisiert. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Juristen Dani Duttweiler, hat sie eine Tour durch die Zeit und durch die Altstadt von Frauenfeld ausgearbeitet. In der Bibliothek war sie auf Otto Siggs Publikation zu Hexenverfolgung der Stadt Frauenfeld und Landgrafschaft Thurgau aus dem Jahr 2023 gestossen. Davon ausgehend recherchierte sie weiter.

Am Ende konzentrierte sie sich für die Konzeption der neuen Führung auf das 17. und 18. Jahrhundert, weil sich ein Wandel anbahnte. „Das waren spannende Zeiten. 1803 wurde der Thurgau ein unabhängiger Kanton, und in der Geistesgeschichte setzte die Aufklärung den Ton.“ Unter den Landvögten sei es um das Bestrafen und damit um die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung gegangen, erst später dann um das Soziale, das Erziehen oder gar das Resozialisieren. 

Historikerin Bettina Duttweiler hat zusammen mit ihrem Mann, dem Juristen Dani Duttweiler, eine Tour durch die Zeit und durch die Altstadt von Frauenfeld ausgearbeitet. | Bild: Inka Grabowsky

Hohe und niedere Gerichtsbarkeit

Die Landvögte waren von 1460 (als sieben eidgenössische Orte das Gebiet eroberten) bis 1798 verantwortlich für die Regierung, aber nicht automatisch für die Gerichtsbarkeit. „Die lag lange noch bei Konstanz. Erst nach dem gewonnenen Schwabenkrieg 1499 erhielten die Eidgenossen für ihre gemeine Herrschaft Thurgau das Landgericht. ‚Wer den Galgen hat, hat die Macht', hiess es damals.“

Zu unterscheiden ist dabei die niedere Gerichtsbarkeit, bei der es um Alltagskriminalität wie kleinere Diebstähle, Raufhandel oder Lärmbelästigung gehen konnte, und die hohe Gerichtsbarkeit, bei der es beispielsweise um Mord oder Hexerei ging. Nur das hohe Gericht konnte Todesstrafen aussprechen. Es setzte sich aus dem Landvogt (der jeweils für zwei Jahre im Amt war), dem Landammann, dem Schreiber und zwölf gottesfürchtigen Männern aus der gemeinen Herrschaft zusammen.

Beim sogenannten Malefizgericht, bei dem es um Leben und Tod ging, kamen noch einmal zwölf Laienrichter hinzu. „Ab 1712 gab es ein Proporz-System, damit beide Konfessionen gleichermassen beteiligt waren“, erläutert die Historikerin. 

Bettler wurden schon damals verfolgt

Rund 130 Gerichtsherrschaften gab es im Thurgau noch Mitte des 18. Jahrhunderts. Auch im Schloss Frauenfeld – in eben jenem Gerichtssaal, in dem sich die Teilnehmenden der Führung zusammengefunden haben – wurden Verhandlungen vorbereitet.

Nächster Schauplatz der Tour ist die evangelische Kirche: „Der Landvogt musste die Beschlüsse der Eidgenossenschaft umsetzen“, referiert die Expertin. „Und weil damals nicht jeder lesen konnte, hat der Pfarrer von der Kanzel über diese Mandate informiert.“ Oft sei Bettelei zum Thema geworden. „Man unterschied zwischen eigenen Bettlern und fremden Landstreichern“, so Bettina Duttweiler. „Die einen wurden geduldet, die anderen vertrieben, gebrandmarkt, in ewige Kriegsdienste verkauft oder als Galeerensklaven verschifft.“

So richtig vorbei sei diese Geschichte nicht, merkt Dani Duttweiler an. „Die Bettlerfrage wurde schon vor 300 Jahren diskutiert. Und wir fragen uns heute immer noch, wie wir mit Randständigen umgehen.“

Spielhandlung vergegenwärtigt die Missstände

In der evangelischen Kirche ereilt die Gruppe die Nachricht, dass die nette Kräuterfrau Kunigunde Zürcher (gespielt von Vreni Stephan), die vor dem Schloss Heilkunde-Tipps gab, verhaftet wurde. Sie befände sich bereits bei der peinlichen Befragung, erzählt Barbara Schenkel (alias Anna Keller): Sie sei verhaftet worden, weil sie aus Rache ein Pferd vergiftet habe. Niklas Schenkel als Sohn von Anna Keller wird später die Nachricht bringen, dass Kunigunde verurteilt wurde.

„Das ist 1635 wirklich passiert“, erklärt Bettina Duttweiler. „Allerdings nicht innerhalb von zwei Stunden wie in unserer Führung, sondern innerhalb von elf Tagen.“ Anhand des persönlich miterlebten Schicksals werden die Fehler des alten Rechtssystems anschaulich. 

Barbara Schenkel (alias «Anna Keller») spielt mit beim neuen szenischen Stadtrundgang in Frauenfeld. | Bild: Inka Grabowsky

Bemerkenswerte WCs

Die bedauernswerte Kunigunde Zürcher wartet im Untersuchungsgefängnis auf ihre Verhandlung – entweder nahe der katholischen Kirche oder im Gefängnisturm mit Folterkammer, dem „Streckstübli“. 1771 brannte ein Teil zusammen mit der halben Stadt ab. Der Frauenfelder Gefängnisturm wurde 1829 abgebrochen, so dass heute nichts mehr davon zu sehen ist. Allerdings gibt es in unmittelbarer Nähe Gefängnisspuren aus neuerer Zeit: 1831 wird an der Freiestrasse 26 das kantonale Verhöramt und Untersuchungsgefängnis eröffnet. Bis 1992 hatte es Bestand. Die ehemaligen Zellen sind noch als solche zu erkennen und werden heute als WCs des Museums für Archäologie genutzt. 

Die ehemaligen Zellen des Untersuchungsgefängnisses sind noch als solche zu erkennen und werden heute als WCs des Museums für Archäologie genutzt. | Bild: Inka Grabowsky

Folter war normal

Auch wenn von den Schrecken des 17. Jahrhunderts nicht viel Fassbares geblieben ist, so bekommen die Teilnehmenden der Führung doch einen Eindruck: Hanspeter Stephan als „Nach-Richter Meister Leonhard Volmar“ erzählt so plastisch von seiner Arbeit, dass man mehr Bilder vor dem inneren Auge hat als einem lieb sein kann. Den Sack, in dem Kindsmörderinnen in der Murg ertränkt werden, hat er ebenso dabei wie die Daumenschrauben und das Messer, mit dem er Schlitzohren die Ohren aufschlitzt. „Nach-Richter“ sei ihm als Berufsbezeichnung lieber als „Scharfrichter“, denn seine Aufgabe käme eben nach dem Gericht, sagt er. „Die Wahrheit muss an den Tag, Fehler müssen bestraft und Unrecht gesühnt werden. Dafür bin ich da.“

Henker ausserhalb der ehrbaren Gesellschaft

Scharfrichter hatten in der Ständegesellschaft bis hinein in die frühe Neuzeit einen sogenannten „unehrlichen Beruf“. Oder wie Hanspeter Stephan in seiner Rolle sagt: „Man braucht uns, aber man geht uns aus dem Weg.“ Einen eigenen Tisch und eigenen Bierkrug im Wirtshaus, eine eigene Bank und einen eigenen Eingang in der Kirche gebe es, damit niemand mit dem Henker in Berührung kommen müsse.

Aussuchen würde sich das niemand. „Der Beruf wird in der Familie weitergegeben.“ Andererseits habe der Scharfrichter eben auch bemerkenswerte Kenntnisse zur menschlichen Anatomie. „Manch einer kommt zu uns, weil wir wissen, wie Schmerz auch wieder aufhört“, sagt Meister Volmar. „Wir können besser mit Verbrennungen oder mit ausgerenkten Schultern umgehen als mancher Doktor.“ 

Hanspeter Stephan als „Nach-Richter“ oder Scharfrichter erzählt so anschaulich von seiner Arbeit und dem Einsatz seiner Arbeitsinstrumente, dass man mehr Bilder vor dem inneren Auge hat als einem lieb sein kann. | Bild: Inka Grabowsky

Pranger neben dem Rathaus 

Bettina Duttweiler erzählt auf dem Weg durch die Frauenfelder Altstadt von einem weiteren realen Fall: Eine junge Frau ist in eine Gaststätte eingebrochen, um Leintücher zu stehlen. Sie wird zu einer halben Stunde Pranger und zu 15 Rutenschlägen verurteilt. „Diese Ehrenstrafe muss schlimm gewesen sein, zumal die Strafe oft mit einer Verbannung aus der Landgrafschaft einherging. Die Verurteilten mussten also ihr soziales Umfeld verlassen. Ohne Geld war ein Neuanfang quasi unmöglich.“

Der Nachrichter gibt den Teilnehmer:innen im ehemaligen Gefängnishof hinter dem heutigen Museum für Archäologie und Naturmuseum eine Schandmaske in die Hand, die Menschen am Pranger tragen mussten, die sich etwa der üblen Nachrede schuldig gemacht hatten. „Die eiserne Haube ist sehr schwer – das gab ordentlich Kopfweh.“

Vergangenheit wirkt nach

Das Fazit der Historikerin Duttweiler fällt bedenklich aus: „Die Justiz des 17. und 18.  Jahrhunderts ist ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. Es gab Justizmorde. Man brauchte Sündenböcke. Vergessen sollten wir es nicht. Denn vielleicht sind wir heute gar nicht so viel weiter. Jetzt stehen wir am digitalen Pranger – und das ist genauso Unrecht wie der physische Pranger damals.“

Nächstes Datum

Der nächste szenische Stadtrundgang zu „Hexen, Dieben und Gesindel“ findet am Sonntag, 29. Juni 2025 statt. Er beginnt um 13.30 Uhr im Schloss Frauenfeld und endet dort um 15.30 Uhr.

Eine zweite Tour startet 14.15 und dauert bis 16.15 Uhr.

Die Touren sind geeignet für Jugendliche ab 14 Jahren. 

 

Anmeldung unter historisches.museum@tg.ch

 

Eintritt frei, Kollekte. 

 

 

 

 

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