von Inka Grabowsky, 10.09.2025
Wenn Geschichte lebendig wird: Die verborgene Kraft der Reliquien

Prächtige Reliquiare sind spektakulär anzusehen. Sie sind nicht so selten wie man denkt: Sterbliche Überreste von Heiligen verbergen sich im Altar jeder katholischen Kirche. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
«In frühchristlicher Zeit wurden über den Gräbern der Märtyrer Altäre errichtet, zu denen die Menschen wie zu einer Erinnerungsstätte gepilgert sind», erklärt Alexandra Mütel, Kunsthistorikerin und Archivarin im Bistum Basel, zu dem aus historischen Gründen der Thurgau gehört. Über den Gräbern wurden später Kirchen gebaut.
Im Kirchenrecht wird nach wie vor empfohlen, dass in den Altären von Pfarrkirchen Reliquien eingesetzt werden. Aufgrund von dieser Tradition gibt es das Sepulcrum (lateinisch für «Grab»), einen Hohlraum im Altar, in dem sich die Reliquien befinden. Üblicherweise sind es Überreste desjenigen Menschen, dem die Kirche geweiht ist.

An Reliquien scheiden sich die Geister. Für die einen sind die sterblichen Überreste von besonders frommen Menschen ein probates Mittel via Fürbitte mit Gott in Kontakt zu treten. Für die anderen sind Skelettteile, Haare oder Zähne Zeugnis von Aberglauben, und ihre Ausstellung mindestens pietätlos, mitunter auch gruselig.
So oder so: In der Geschichte des Thurgaus haben Reliquien eine grosse Rolle gespielt. Deshalb widmen wir ihnen eine Serie, die sich mit ihrer Bedeutung im kirchlichen Alltag, ihrer Aufbewahrung in mehr oder weniger kostbaren Gefässen (den Reliquiaren), sowie ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung befasst.
Die Serie ist entstanden im Rahmen unseres Recherchefonds. Zum 15. Geburtstag von thurgaukultur.ch haben wir im Mai 2024 einen Jubiläums-Recherchefonds initiiert, um bislang unterbelichtete Themen unter die Lupe nehmen zu können.
Unter dem Titel „15 Jahre, 15 Geschichten“ sollen tief recherchierte Beiträge zu verschiedenen Themenfeldern des Thurgauer Kulturlebens entstehen. Alle Beiträge werden in einem Dossier gebündelt. Der Recherchefonds wird unterstützt von der Stiftung für Medienvielfalt und der Crescere Stiftung Thurgau.
Das ist für das Bistum Basel immer noch ein Thema, wie Alexandra Mütel erklärt. «In den 1980er Jahren haben die Kopten die Heiligen der Thebäischen Legion und die Heilige Verena für sich wiederentdeckt. Diese Heiligen stammen der Legende nach aus dem ägyptischen Theben und sind für die koptische Kirche von grosser Bedeutung, da sie eine Identifikationsfigur für die christliche Minderheit in Ägypten darstellen, die bis heute Repressionen und Verfolgung ausgesetzt ist. Immer wieder gibt es von diesen Gemeinschaften Anfragen nach Reliquien.»
Die Schweiz ist deshalb prädestinierte Ansprechpartnerin, weil hier bei St.Maurice schon im 4. Jahrhundert ein antikes Massengrab entdeckt worden war, das der Legende nach die sterblichen Überreste der Thebäischen Legion enthielt. Um Bitten nach Reliquien erfüllen zu können, verfügt das Archiv in Solothurn über eine ganz spezielle Schatzkammer. «Es ist ein Raum für kirchliche Kulturgüter in unseren Depots», sagt die Archivarin lachend.
«Geweihte Gegenstände und Ausstattungsstücke werden manchmal bei uns abgegeben, wenn eine Pfarrei sie nicht mehr braucht, und wir können sie dann weitergeben, wenn eine andere Gemeinde anfragt.» Seit der Liturgiereform in den siebziger Jahren habe sich viel verändert. Reliquien und Reliquiare wanderten ins Regal, weil damals viele Nebenaltäre aus den Kirchen verschwanden. «Die Reliquien in ihren Bleischatullen sind nicht alle spektakulär. Oft handelt es sich um kleine Medaillons mit Knochensplittern.»

Ein winziges Stück aus dem Skelett von Nikolaus von der Flüe, liebevoll gefasst. Bild: Sr. M. Dominique Leuenberger
Geschichte wird fassbar
Im Altar mögen Reliquien unsichtbar sein, unwichtig sind sie den Gläubigen deshalb nicht. «Uns geht es darum, begreifbar zu machen, dass die Märtyrer, Evangelisten oder Heiligen wirklich gelebt haben», dass sie nicht erfundene Figuren einer Fantasiegeschichte sind», erklärt der Kreuzlinger Pfarrer Edwin Stier. «In der Kirche spricht man von ‹demonstratio ad oculos›, also von einem Vor-Augen-Führen.»
Julian Schuler, Pfarreimitarbeiter und Theologie-Doktorand, ergänzt: «Reliquien waren den Menschen auch deshalb wichtig, weil sie sich in einer Glaubensgemeinschaft mit den Märtyrern gesehen haben. Die Christen und Märtyrer standen mit ihrer Opferbereitschaft oder ihren Leiden in einer Tradition, die bis auf Jesus und die Apostel zurückgeht.»
Biblisch begründet
Die Offenbarung des Johannes wird als Grundlage für den Reliquienkult herangezogen: «Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten.» (Offb 6,9)
Das zweite Buch der Könige 13, 21 begründet den Glauben an die Wunderwirkung von Reliquien: «Und es begab sich, dass man einen Mann begrub; da sie aber die Kriegsleute sahen, warfen sie den Mann in Elisas Grab. Und da er hinabkam und die Gebeine Elisas berührte, ward er lebendig und trat auf seine Füsse.» (2. Kön 13,21)

Sonderfall Jesus
Christen glauben, dass Jesus leibhaftig auferstanden ist. Deshalb kann es von ihm keine Körperreliquie geben. Nur etwas Blut soll auf Erden geblieben sein. Auf der Insel Reichenau wird die Heiligblut-Reliquie verehrt. Früher war auch seine Vorhaut im Gespräch. Nach der Beschneidung als Baby soll sie jemand mitgenommen und in Olivenöl konserviert haben. Seit 1983 ist sie verschwunden. Die Kirche hat sich von dem skurrilen Überbleibsel distanziert.
Eine der bekanntesten und umstrittensten Jesus-Spuren ist das Turiner Grabtuch. Neue Forschungen sollen belegen, dass es entgegen früheren Erkenntnissen doch alt genug wäre, um aus dem 1. Jahrhundert nach Christus zu stammen. Es wäre damit eine Berührungs-Reliquie statt «nur» eine Ikone. Dem Pfarrer ist das nicht ganz so wichtig: ««Zentral ist, dass Jesus Christus sich durch die Zeiten hindurch in der Eucharistie mit seinem gekreuzigt-auferstandenen Leib vergegenwärtigt. Der Glaube und die historische Faktizität ergänzen sich.»

Verehren, nicht anbeten
Kreuzesreliquien gibt es eine ganze Menge. Im Hochaltar der Kreuzlinger Basilika St. Ulrich wird auch eine aufbewahrt. Bischof Konrad von Konstanz hat sie um die Mitte des 10. Jahrhunderts aus dem Heiligen Land mitgebracht. Aus dem «Crucelin», zwei kleinen Teilchen des Kreuzes Christi, wurde der Name der Stadt «Kreuzlingen». «Die beiden Splitter sehen aus wie ein kleiner Ast», so Pfarrer Stier. «Es geht eine Kraft davon aus. Es bleibt etwas lebendig. Die Besucher der Basilika sind davon begeistert – von den kleinen Kindern bis zu den Erwachsenen. Insofern helfen mir Reliquien bei der Verkündigung.»
Julian Schuler ergänzt: «Vergegenwärtigung ist das entscheidende Stichwort. Reliquien werden nicht angebetet, sondern sie werden verehrt, und wir bitten die Heiligen um ihr Gebet und ihre Fürsprache an Gottes Thron. Sie erinnern uns an das Heilsgeschehen, das sich im Leben von jedem einzelnen Gläubigen zeigt.»
Beiden Theologen ist wichtig, dass die Anbetung allein Gott vorbehalten ist. «Die Heiligen sind keine Götter, sondern Vorbilder und Fürsprecher», sagt Schuler. «Viele haben auch ein besonderes Charisma und einen Auftrag von Gott erhalten. Aber Heiligkeit ist das letzte Ziel und die eigentliche Berufung eines jedes Menschen. So bilden wir mit den Heiligen eine Gebetsgemeinschaft, die Himmel und Erde umfasst.»

Reliquien erster, zweiter und dritter Klasse
Das Reservoir an Reliquien scheint nicht zu versiegen. Körperreliquien bestehen meist aus Knochen, gelegentlich aus Haaren, Zähnen oder Geweberesten. Das sind Reliquien erster Klasse. Gegenstände aus dem persönlichen Besitz eines Heiligen oder Märtyrers sind Reliquien zweiter Klasse. Reliquien der dritten Klasse sind zum Beispiel Tücher, die in eine Gruft herabgelassen wurden und dabei durch Kontakt mit einer Reliquie erster Klasse einen besonderen Bezug zum Heiligen bekommen.
Da jedes Jahr neue Menschen selig und heiliggesprochen werden, gibt es auch jedes Jahr neue Reliquien. Gegenstände, die etwa Johannes Paul II. angefasst hat, sind zu Reliquien 2. Klasse geworden. Eine spektakuläre Reliquie 1. Klasse gibt es von Carlo Acutis, einem Jugendlichen, der 2006 mit 15 Jahren an Leukämie gestorben ist. Er galt als «Influencer Gottes» und wurde seliggesprochen.
Sein Leichnam wurde exhumiert, das Fleisch aus Wachs nachmodelliert und ist seit 2019 in einem gläsernen Reliquiar zu sehen. Sein Herz wurde in einen gesonderten Schrein gelegt. «Die Ganzkörperreliquie wurde zu den Ehren der Altäre erhoben. Das heisst: Die Kirche empfiehlt die öffentliche Verehrung eines Heiligen», sagt Pfarrer Stier. «Er inspiriert Gläubige über seinen Tod hinaus.» . Am 7. September wurde er offiziell heilig gesprochen.
Ethische Überlegungen
Stier hat keine Bedenken, dass mit der Nutzung von Reliquien die Grabesruhe von Verstorbenen gestört würde: «Ich glaube, den Heiligen wäre es egal, dass ihre körperlichen Überreste in alle Welt verteilt werden, solange sie über ihren Tod hinaus noch etwas Gutes tun können. Am Tag der Wiederauferstehung wird es keine Rolle spielen, wo welcher Körperteil liegt.»
Archivarin Alexandra Mütel ist skeptischer: «Manches grenzt für mich an makabre Sensationslust. Die Diskussion darüber muss noch geführt werden, auch innerhalb der Kirche.»

Von Inka Grabowsky
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