von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 13.03.2023
Katharina Blum lächelt müde
Es wäre mehr drin gewesen: Thomas Götz und Jean Grädel bieten mit „Seite Eins“ solide Theater-Unterhaltung. Sie scheitern aber an einer notwendigen Aktualisierung der Mediensatire. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Ein schwarzer Stuhl, eine weisse Tischplatte, darauf eine rote Getränkedose und drumherum ganz viel Leere - das ist der Raum, den Thomas Götz in seinem neuen Stück „Seite Eins“ (Regie: Jean Grädel) ganz allein zu füllen hat. Bei der Premiere des Stücks „für einen Mann und ein Smartphone“, wie es der Autor Johannes Kram untertitelte, steht Götz am Freitagabend im Theaterhaus in Weinfelden in Jeans, hellblauem Hemd flatternd darüber sowie einem grauen Sakko vor dem Publikum und fragt „Finden Sie mich schlimm?“
Eine Frage, die zur Klammer des Stücks werden wird - am Ende stellt Marco, so heisst Götz’ Figur, sie erneut. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass die Antwort darauf am Ende bei vielen Zuschauer:innen vermutlich anders lautet als am Anfang.
Was passiert, wenn man sich auf Boulevardjournalisten einlässt
Marco ist Boulevardjournalist und das offensichtlich sehr gerne. „Ich mag den Umgang mit Menschen, deswegen bin ich zur Zeitung“, sagt er. Was das für ihn bedeutet, legt die Inszenierung stückweise offen. „Seite Eins“ erzählt die Geschichte der Nachwuchssängerin Lea Seeberg, die sich auf einen Deal mit dem Boulevardjournalisten einlässt und am Ende dafür bezahlt.
Das interessante an dem Stück: Lea Seeberg taucht nie wirklich auf. Sie bleibt wie alle anderen Figuren eine unhörbare Stimme am Smartphone. Die Zuschauer:innen erleben sie nur durch die Reaktionen des Protagonisten Marco.
Die anderen sind die Bösen!
Der macht keinen Hehl aus seiner Persönlichkeitsstruktur: „Bin ich Ihnen - sympathisch? Nein? Nicht sympathisch. Das ist gut. Das ist sehr gut. Wissen Sie, sympathisch ist 90er! Geht.-Gar.-Nicht!“
Sein Text ist eine ausufernder Verteidigung des Boulevardjournalismus bei gleichzeitiger Diskreditierung anderer Medien. „Denken Sie, was Sie wollen. Aber unsere Wahrheit ist nicht die einer ideologisierten Medienklasse oder einer opportunistischen Politikerklasse, nicht die der gierigen Manager oder dogmatischen Wissenschaftler. Nein, die Wahrheit der Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.“
Gnadenlos populistisch und entlarvend
Das ist natürlich gnadenlos populistisch und entlarvt einerseits das irre Selbstbewusstsein des Boulvardjournalismus, ist bisweilen aber auch gefährlich nahe am Vertrauen zersetzenden Verschwörungsgeschwurbel, das in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren exponentiell zugenommen hat. Dem Text gelingt dieser Balanceakt und auch Thomas Götz wird bei der Weinfelder Premiere nach anfänglichen Texthängern zunehmend trittsicherer bei dieser Gratwanderung.
Sein Marco verkörpert den Typ des in die Jahre gekommenen Boulevardjournalisten. Desillusioniert von der Gesellschaft, nicht von seinem Beruf. Er ist bis zur Selbstbesoffenheit überzeugt von sich, schmierig, Sexist und der Prototyp des alten weissen Mannes. Die Sängerin Lea Seeberg beschränkt er auf ihre Äusserlichkeiten:„hübsch, sexy, mit ehrlichen Augen“. Seine Redaktionsassistentin, die ihn bei der Recherche unterstützt, redet er fortwährend mit „Schätzchen“ an. Ja, so wurde lange in den Redaktionsstuben geredet, frag mal nach beim Tagi Magazin.
Die klugen Kniffe des Stücks
Man ahnt, wie das Stück ausgeht und trotzdem soll hier auch nicht zu viel über den weiteren Verlauf verraten werden, weil es einem als Zuschauer:in den Spass und ein Erweckungserlebnis rauben könnte, wenn man zu konkret nacherzählte.
Der Autor Johannes Kram hat in sein Stück einige kluge Kniffe eingebaut, die Regisseur Jean Grädel werkgetreu auf die Bühne bringt. Interessantester Effekt dabei ist das Spiel mit den Perspektiven: Einerseits will das Stück das Publikum zum Komplizen machen. Immer wieder spricht Marco es direkt an oder bindet es über ein Augenrollen im Gespräch mit Lea ein. Das Kumpelgefühl stellt sich schleichend ein.
Das Spiel mit den Perspektiven
Und gleichzeitig wirkt der Autor in anderen Passagen seines Textes dieser Vereinnahmung entgegen: Obwohl den Zuschauer:innen das Geschehen nur von Marco vermittelt wird, nimmt man am Ende den Blickwinkel der jungen Sängerin ein.
Schliesslich hört das Publikum genau die Sätze des Boulevardjournalisten, die auch Lea Seeberg hört. Das macht den Überraschungseffekt umso grösser, wenn man erkennt welche Schlagzeile aus dem tatsächlich Gesagten schliesslich auf der Titelseite von Marcos „Xpress“ landet. Das kann kathartische Wirkung haben.
Die grösste Leistung des Stücks
Vielleicht die grösste Leistung des Stücks - es gelingt die sukzessive Demaskierung des Boulevards. Allerdings: Die Manipulationen und Verdrehungen von Marco wirken im Vergleich zum ruchlosen und zerstörerischen Treiben seines Kollegen Werner Tötges aus Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ fast niedlich.
Man kann sich gut vorstellen, wie Katharina Blum, im Olymp der Theaterfiguren, müde lächelt über den biederen Marco. Und doch ist es klug, dass Johannes Kram genau hierhin den Scheinwerfer richtet, denn es sind die alltäglichen Boshaftigkeiten des Boulevards, die ihn so gefährlich machen.
Johannes Kram findet für all das schlaue Sätze („Auch wenn es nicht die ganze Wahrheit ist, so ist sie doch die ganze Wirklichkeit!“) und er spart die Verantwortung des Publikums nicht aus, wenn er Marco sagen lässt: „Schauen Sie mich nicht so an! Schauen Sie weg! Das können Sie nicht! Sehen Sie! Das können Sie nicht! Sie möchten sehen, wie ich hier herum zittere.“
Die bröckelnde Macht des Boulevard
Zwischendrin sieht es tatsächlich so aus, als würden dem Boulevardjournalisten seine Methoden um die Ohren fliegen und sein Manipulationssystem einstürzen. Dass er am Ende dennoch triumphiert, zählt zu den grössten Schwächen der Inszenierung. Denn: Der Boulevardjournalismus, wie er 2014 war, als Johannes Kram sein Stück schrieb, ist nicht mit dem von 2023 vergleichbar.
Allein der „Blick“ hat seit 2014 seine tägliche Auflage fast halbiert (sie sank von 164.000 Exemplaren auf 91.000), beim Gratisblatt „20 Minuten“ schrumpfte die Zahl der gedruckten Exemplare von 477.000 auf 311.000. Die Macht des Boulevard bröckelt. Was für eine Aufführung hätte das werden können, wenn Jean Grädels Inszenierung genau diese neuen Entwicklungen aufgegriffen hätte? Wenn Marco wirklich gescheitert wäre?
Die Inszenierung wirkt seltsam verstaubt
Wenn er Lea Seeberg zu einer Figur gemacht hätte, die die Methoden von Marco durchschaut und sich mit Hilfe ihrer Social-Media-Kanälen gegen die Berichterstattung wehrt? Wenn sie sich beispielsweise mit einem Hashtag, sagen wir #haltdiefresseXpress, gegen die infame Berichterstattung des schmierigen Boulevardjournalisten wehrte und so eine #metoo-vergleichbare Bewertung startete? Dieses Phänomen in all seinen befreienden wie bestürzenden Momenten zu analysieren, das wäre eine angemessene Aktualisierung von „Seite Eins“ gewesen.
Aber Jean Grädels Inszenierung verharrt im Jahr 2014. So wirkt seine Version des Stoffes fast zehn Jahre nach der Uraufführung des Stücks seltsam verstaubt. Wie ein Gruss aus vergangenen Zeiten. Das was in Weinfelden nun auf die Bühne kommt ist am Ende eine eher biedere Mediensatire mit erwartbarem Ausgang. Das ist nicht schlecht. Aber, wenn man überlegt, was möglich gewesen wäre, ist es zu wenig.
Die weiteren Aufführungen
Reinlesen: Den gesamten Text von Johannes Kram kann man hier lesen - versehen mit erklärenden Kommentaren des Autoren.
Weitere Aufführungstermine im Theaterhaus
Fr 21. April, 20.15 Uhr
Sa 22. April, 20.15 Uhr
Kasse und Bar ab 19.15 Uhr
Erwachsene: 38.–
in Ausbildung: 30.–
Reservation hier möglich.
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