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von János Stefan Buchwardt, 16.05.2011

«Spinnen»: Anspruch an hochwertiges Theater eingelöst

«Spinnen»: Anspruch an hochwertiges Theater eingelöst
Markus Keller, Hanna Scheuring und Sonia Diaz spielen im Aufenthaltsraum einer psychiatrischen Klinik. | © Bernhard Fuchs

Ohne Zweifel, Sabine Wen-Ching Wang, geboren 1973 in Münsterlingen, beherrscht ihr Metier. Mit ihrem ersten Theaterstück «Spinnen» hat die Thurgauer Nachwuchsautorin einen starken Einstand ins Dramatische Fach geboten. Wenn sich nun mit Jean Grädel ein fachkundiger und besonnener Inszenator ihrer Vorlage annimmt, löst sich der Anspruch hochwertigen Theaterschaffens im Kanton Thurgau auf sehenswerte Weise ein.

Zwei Patientinnen, Anna und Ruth, und zwei Patienten, Robbi und Gwerder, die in unterschiedlichem Härtegrad von psychischen Störungen betroffen sind, treffen wechselweise aufeinander. Ohne einem expliziten Handlungsverlauf unterworfen zu sein quasseln sie mehrheitlich – Gwerder bildet die wohltuende Ausnahme – aufeinander los und parlieren mehr oder weniger prekär aneinander vorbei.

Der neueste und vierte Coup des Freien Theaters Thurgau versetzt uns mitten in die offene Station C einer Psychiatrischen Klinik namens Seelenberg. Dass der ständig wiederkehrenden Regieanweisung, die den Protagonisten einen sattsamen Zigarettenkonsum vorschreibt, in Zeiten politischer Massnahmenkataloge gegen das Volkslaster zu Recht keine Beachtung geschenkt wird, ist zwar nur kleines Indiz, darf aber für die Realitätsnähe und Aktualität einer bedachtsamen und ausgeglichenen Inszenierung stehen. Jean Grädel modelliert dahingehend, dass Köpfe auf beiden Seiten der Rampe ganz ohne Glimmstengel in den Zustand des Rauchens und Heisslaufens versetzt werden. So gewinnt etwa Annas persönliche Protestnote, auch ganz ohne reale Dunstschwadenkulisse, wieder an nötiger Bezogenheit und Brisanz – mittels eines Aschenbechers zertrümmert sie gegen Aufführungsende eine Glastür und initiiert damit den Schritt in die geschlossene Abteilung.

Boden für eine überzeugende Arbeit

Grädel weiss gut auszuformen, indem er dem dichten, lyrisch gestalteten Rhythmus der Vorlage vertraut. Er ebnet den Boden für durchweg überzeugende, mitunter sogar glänzende schauspielerische Leistungen. Schön zu sehen, wie es seiner Truppe (Sonia Diaz, Hanna Scheuring, Markus Keller und Uwe Schuran) gelingt, vitale und gleichzeitig verstörende Einblicke in den Alltag des Ausrastens und Durchdrehens zu präsentieren. Und der Regisseur ist gut beraten, nachdrücklich im Sinne seiner Autorin zu handeln, indem er auf Pathologisierung, Stigmatisierung oder Überzeichnung kranker Menschen verzichtet.

Kritisch anzumerken: Trotz bewusst gesetzter Pausen hinterlässt die Szenenabfolge stellenweise einen leicht gehetzten Eindruck. Auch scheint der Abend – ungewollt und unvermeidbar – in seiner ganzen Länge einer vorgegebenen Gleichförmigkeit der Wangschen Formensprache zum Opfer zu fallen. Diese Monotonie kann auch durch gezielt eingespielte musikalische Versatzstücke nur bedingt aufgefangen werden. Selbst wenn da und dort eine gewisse Unsensibilität in der Lautstärkeregelung, bisweilen eine ruppig gedachte Bruchstückhaftigkeit der Einsätze auszumachen ist, wenn also die Verwobenheit zwischen Szenen und Musiksprengsel gut und gerne noch präziser hätte ausfallen dürfen, Daniel Schneiders Motive zeugen von offenen künstlerischen Ohren und einer gut integrierten kreativen Dynamik.

Nachdenklich stimmender Anschauungsabend

Sabine Wang verknappt, akzentuiert und lässt eskalieren. Über verlangsamte Bewegungsabläufe, mentale Hemmungen, manisch-depressive, schizoide und autistische Verhaltensweisen samt den dazu passenden Artikulations- und Redeweisen leuchtet sie das Feld klinischer Psychiatrie aus. Abnormales Verhalten bestimmt ihre Figuren, ist aber nur so weit in das Stückpersonal eingeschrieben, dass Wiedererkennungseffekte möglich bleiben. Die Dramatikerin und der Regisseur sind sich einig, indem sie weder werten noch denunzieren. So darf sich das Publikum auf subtil-theatralische Weise ins Gewissen reden lassen: Persönliche Kenter- und Kippbewegungen bedrohen uns alle. Wenn wir vermeintlich Normalen verspüren, wie rasch wir von gewohnten und stabilen Lebenspfaden abkommen können, stellt sich die Frage nach dem Ausmass des in jedem von uns angelegten «Spinn»-Potentials.

Wang zeigt ausdrücklich Figuren, «deren Geschichten, abzüglich ihrer Zuspitzung, unsere eigenen sein könnten.» Den Überblick verlieren, sich defizitären psychischen Zuständen ausgesetzt sehen, darunter leiden, wie die Umwelt diese Situation einschätzt, das alles trägt weniger Belustigungspotential in sich, als der Theaterabend uns glauben machen will. Auch wenn immer wieder Humor durchschimmert, alles in allem hinterlässt er ein grüblerisch gestimmtes Publikum. Denn wer befragt sich schon gern nach der eigenen Mangelhaftigkeit und Therapiebedürftigkeit? Wer von uns stellt sich schon gern bewusst und selbstverantwortlich den verschwimmenden Grenzen zwischen Normalität und Verrücktheit?

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