von Jochen Kelter, 23.04.2020
Stille, bitte!
Zu viel Selbstdarstellung, zu wenig Reflexion: In der Corona-Krise zeigt die Gegenwartsliteratur ihr übliches Gesicht. Dabei läge in der Ruhe doch auch eine Chance zur Besinnung.
Theater sind geschlossen, Verlage bleiben auf ihrer Frühjahrsproduktion sitzen, Musiker können nicht auftreten, Künstler ihre Werke nicht zeigen. Ein zunehmend hektisch aufgeblasener Kulturalltag, in dem in steigendem Mass auch Banales und Überflüssiges Platz finden, ist auf einmal wie eine Seifenblase oder ein Luftballon geplatzt.
Dass Autoren/innen und Künstler/innen Existenzsorgen plagen und ihnen geholfen werde soll, ist unstrittig. Aber dass in der Leere und Stille nun auf einmal Hektik ausbricht, liegt wohl daran, dass sie halt nur ein Spiegelbild des sonst alltäglichen Aktivismus ist. Warum nutzen Autoren nicht die stille Zeit, um einfach an ihren Manuskripten zu arbeiten? Schreiben sie gerade an keinem? Das kann höchstens die Ausnahme sein.
Kann man Bücher nicht auch einfach still für sich lesen?
Stattdessen schreiben sie Corona–Tagebücher und Corona – Romane. Der österreichische Autor Thomas Glavinic hat in der Zeitung «Die Welt» bereits den ersten Teil seines Manuskripts mit dem Titel «Der Corona-Roman» veröffentlicht: «Im Kampf zwischen meinem Verdrängungstalent und meiner ausgeprägten Beobachtungsgabe obsiegte … letztere». Das Deutschlandradio attestiert ihm «schmerzhafte Autofiktion», «Humor und Hypochondrie» sowie «selbstironischen Grössenwahn». Muss man das lesen?
Tillman Ramstedt hat auf Zeit online die Mini-Serie «Der Quarantäne-Tröster» publiziert. Der Schweizer Peter Stamm veröffentlicht sein Krisen–Journal und schwelgt in Erinnerungen und Musik. Pathetisch (und damit kitschig) wird die Journalistin Carolin Emcke (immerhin Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels).Sie findet es «berührend», wie Kulturschaffende sich jetzt «verausgaben, wo es nur geht», um in einer «riesigen Angstvertreibungs-Kommunikationsmaschinerie gegen den eigenen horror vacui anproduzieren». Viel ist auch die Rede von der Kindheit und wie die Erinnerungen an sie «Halt geben» und «Trost spenden».
Zu viel Selbstdarstellung in der Krise
Das Online-Magazin thurgaukultur.ch hat Video- und Smartphone-Filmchen von Künstlern angefertigt und online gesellt, in denen musiziert und vorgelesen wird. Kinderliteratur und eigene oder fremde, von Autoren/innen gelesene Texte. Das ist wenigstens keine Corona-Literatur, auch wenn man sich fragt, warum man in den eigenen vier Wänden nicht ganz einfach Bücher in stiller Augenlektüre lesen und dafür vielleicht Hinweise auf Bücher erhalten könnte.
Muss das sein: Selbstdarstellung in der Krise? Die Schweizer Lyrik–Gesellschaft Pro Lyrica berichtet, sie habe seit dem 25. März bereits über 150 Gedichte und Tagebucheinträge von über 30 Autoren/innen erhalten. Wer, oh Schreck, soll die alle lesen wollen?
Kaum jemand schaut über den eigenen Tellerrand
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zeigt sich auch in der Krise als das, was sie mehrheitlich auch zu Normalzeiten ist: Teil der U–Branche, Abteilung Unterhaltungsliteratur, die zur Zeit indessen eher sich selber unterhält. Mit nostalgische Erinnerungen, Wachträumen, geschilderten Spaziergängen, Teestunden, Wolkenbetrachtungen und einer Portion eitlem Narzissmus.
Kaum jemand scheint wirklich über den eigenen Tellerrand, das eigene, bestens geschützte Ego hinausschauen zu wollen. Kaum jemand stellt sich die Frage nach gesellschaftlichen Zusammenhängen, ob zum Beispiel Klimawandel und Pandemien zusammenhängen, ob das «normale» Funktionieren unserer auf Konsum, Business und Arbeitsethik getrimmten Gesellschaft mit unserer derzeitig noch stärkeren sozialen Vereinsamung zu tun hat.
Wie die Anglizismen Bedeutung verschleiern
Zu Hilfe kommen unserer Nabelschau dabei die zahllosen Corona-Anglizismen, die den Vorteil haben, dass man nicht auf Anhieb versteht, was sie wirklich bedeuten. Der Begriff Lockout klingt halt harmloser als «Aussperrung». Und Social distancing will uns weismachen, dass es um körperlichen Abstand geht. Der wahre Inhalt «soziale Distanz» oder «Distanzierung» sollte einem aber spätestens dämmern, wenn man den Blick in diesen Zeiten auf Afrika, Südamerika oder Südasien richtet.
Hinweis: Wenn ihr euch fragt, wie dieser Text zur sonstigen redaktionellen Haltung und zu unseren eigenen Aktionen #dasliterarischesolo und #deinebühne passt, dann ist das leicht erklärt: Das nennt sich innere redaktionelle Freiheit und Meinungsvielfalt. Nicht jeder Beitrag, den wir publizieren muss 100-prozentig mit unserer eigenen Auffassung übereinstimmen. Wir bemühen uns um redaktionelle Vielstimmigkeit. Sonst würde es ja auch schnell langweilig. Unter Ziffer 5 in unserem Redaktionsstatut heisst es dazu: «Ansichten von Autorinnen und Autoren, die den Sichtweisen der Redaktion/Geschäftsstelle zuwiderlaufen, nicht aber den unter Punkt 3 genannten Grundsätzen entgegenstehen, werden respektiert. In der Kommentierung finden auch Minderheitsmeinungen ihren Platz.»
Von Jochen Kelter
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