von Jochen Kelter, 10.06.2021
Eine etwas andere Stadtgeschichte
Zum 150-jährigen Jubiläum der Druckergewerkschaft in Konstanz ist ein Buch erschienen, das einen anderen Blick auf die Stadtgeschichte wirft – und ihre Beziehungen zur liberalen Schweiz. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Im Jahr 1866 wurde der Verband der deutschen Buchdrucker gegründet, 1870 folgte sein Konstanzer Ortsverein. Die Stadt, zu jener Zeit zum Grossherzogtum Baden gehörig, ab 1871 auch zum Deutschen Reich, hatte damals um die 10.000 Einwohner. Im vergangenen Jahr also hätte unter normalen Umständen die Ortsgruppe Medien und Kunst der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Nachfolgeorganisation der Drucker und Setzer, das Jubiläum, begangen.
Zusammen, so war es jedenfalls geplant, mit den Schweizer KollegInnen von der Gewerkschaft Unia, denn auch der Schweizerische Typographenbund, bereits 1858 gegründet (die Thurgauer Sektion folgte fünf Jahre später), der als älteste Gewerkschaft auf dem Kontinent gilt, existiert ebenfalls schon lange nicht mehr. Aber die grenzübergreifenden Veranstaltungen fielen und fallen der Corona-Pandemie zum Opfer.
Porträts einzelner Persönlichkeiten
Der von StudentInnen der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Gestaltung (HTWG) Konstanz grosszügig und mit zahlreichen Abbildungen übersichtlich gestaltete Band «Druck.Machen» (erschienen im Querwege-Verlag) eines Autorenkollektivs zeichnet die Geschichte der Gewerkschaft und der Arbeiterbewegung in 13 Kapiteln nicht nur nach, sondern ergänzt und bereichert sie auch durch Porträts einzelner Persönlichkeiten und setzt Schlaglichter auf einzelne Schwer- und Brennpunkte der Entwicklung der regionalen und überregionalen Arbeiterbewegung.
Der Gründung der Konstanzer Sektion der Buchdrucker ( und Setzer, die längst auch Gazetten und Flugblätter druckten) wohnten nur wenige Personen bei, die genaue Zahl ist offenbar nicht zu eruieren. Die zehn Druckereien, die es damals gab, beschäftigten insgesamt nur zwischen fünf und zehn Drucker und Setzer. Meist stand der Druckereibesitzer selber an der Maschine.
In der Schweiz lockten bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn
Aber Drucker und Setzer galten insgesamt als gebildeter als andere Arbeiter und häufig auch als das mittlere Bürgertum. Dazu kamen die wandernden Gesellen, die viel zur Vernetzung von Druckern und Setzern beitrugen, aber keine eigene Interessenvertretung besassen. Von Konstanz wanderten sie zudem häufig in die Schweiz weiter, wo bessere Arbeitsbedingungen und Lohn in Aussicht standen.
Die Arbeiterschaft politisierte um 1870 noch nahe am wirtschaftsliberalen Bürgertum. Doch dieses war zunehmend irritiert durch sozialreformerische Ideen und schloss die Sozialdemokraten 1873 aus ihrem Arbeiterbildungsverein aus. Diese gründeten noch im selben Jahr den «Vorwärts». Fortan gab es die Sozialistische Arbeiterpartei, die Vorläuferin der SPD, auch in Konstanz.
Zuflucht in den Schweizer Gewerkschaften
Die Revolution von 1848 war in ganz Deutschland gescheitert, Pressefreiheit gab es nicht. Nicht so in der Schweiz. Dort war die liberale Revolution (Stichwort «Sonderbundkrieg») erfolgreich und die Pressefreiheit in der Bundesverfassung von 1848 verankert. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg von Zeitungen aller Art und einem wachsenden Bedarf an Arbeitskräften. Und die Schweizer Gewerkschaften nahmen ausländische Mitglieder, nicht zuletzt deutsche Emigranten, ohne weiteres auf.
Von 1878 bis 1890 galten in Bismarck - Deutschland nach zwei fehlgeschlagenen Attentaten (von Nicht – Sozialdemokraten) auf den Kaiser die «Sozialistengesetze», Die Parteien, Vereine, Gewerkschaften, Druckschriften und Versammlungen der Arbeiterbewegung waren verboten.
Gedruckt wurde in einer Zürcher Druckerei
Im Schweizer Exil druckte die Arbeiterpartei ab 1879 ihre neue Wochenzeitung «Der Sozialdemokrat» in der Zürcher Druckerei des Schweizer Arbeiterbunds, Und über die Grenze bei Konstanz wurde sie auf dem Land- und Seeweg auf abenteuerlichen Wegen zur Konstanzer Post, nach Meersburg, Immenstaad und Vorarlberg und den Hochrhein hinunter bis Basel transportiert.
Ende 1890 liefen die Sozialistengesetze aus, der Reichstag lehnte eine Neuauflage ab, und bei den folgenden Wahlen zum Reichstag wurden die Sozialdemokraten mit knapp 20 Prozent zum ersten Mal stärkste Partei.
Der Band enthält erfreulicherweise in der vorderen und hinteren Umschlagklappe nicht nur eine Zeittafel zur Entwicklung der Druckkunst und einen Liste mit Begriffserklärungen (von Antiqua bis Voluntariat), sondern auch eine Karte mit Konstanzer Orten der Demokratie- und Arbeiterbewegung.
Das Buch
Druck.Machen. Eine etwas andere Stadtgeschichte von Konstanz
hrsg. Von Ralph-Raymond Braun, Patrick Brauns, Pit Wuhrer, Margrit Zepf
182 S., Querwege Verlag 2021, 25. - CHF
Mehr zum Buch gibt's auch hier: https://druck-machen.net/das-buch/
Von Jochen Kelter
Weitere Beiträge von Jochen Kelter
- Identitätskrise? (19.07.2024)
- Frauenfeld ist überall (03.10.2023)
- Solid und handlich: Der neue Mauerläufer (25.07.2023)
- Warum wir mehr Kulturjournalismus brauchen (22.01.2021)
- Am Scheideweg (21.12.2020)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Geschichte
- Medien
- Industrie
Ähnliche Beiträge
Vom Fräuli und dem Leuli
Facetten des Mittelalters (3): Auch mit gläsernen Stadtscheiben liessen sich Stadtrechte und Schutzherrschaften belegen. Die Frauenfelder Stadtscheibe ist ein gutes Beispiel dafür. mehr
Die Tricks der Mönche
«Facetten des Mittelalters» (2); Nicht immer wurde mit Waffen um Privilegien gekämpft. Oft lagen erst gefälschte Urkunden auf dem Tisch. Ein Blick in die Fälscherwerkstätten des Klosters Reichenau. mehr
Ausgebrüllt
Was hat es mit diesen Dingern auf sich? Freundlich blicken diese Löwen, als wären sie direkt dem Thurgauer Wappen entsprungen und erstarrt. Waren diese «Leuen» netter Hausschmuck oder mehr? mehr