von Zora Debrunner, 25.03.2016
Streifzug durch Thurgauer Tristesse
Der gebürtige Weinfelder Peter Stamm führt in seinem neuen Buch „Weit über das Land“ durch Wälder und Ebenen, Beziehungsknatsch und Familienleben, Schwermut und Hoffnung. Ein lesenswertes Buch, das auch Heimweh-Thurgauer und solche, die da geblieben sind, zu überzeugen vermag.
Zora Debrunner*
Ich mag Romane, die in Gegenden spielen, die ich kenne. „Weit über das Land“ beginnt im Thurgau. Dort, wo es im Herbst neblig und im Sommer warm ist. Die sommerliche Süsse des Thurgaus verschwindet schnell in diesem Roman über einen Mann, der unvermittelt Frau und Kinder verlässt; die Süsse macht einer inneren Bitterkeit Platz. Peter Stamm beschreibt erst unerträglich langsam, dann gegen Ende zügig, wie sich dieser Mann, Thomas, fühlt. Man ist hin und her gerissen, ob man diese Figur mögen soll oder nicht: Trotz aller verständlichen Sorgen, der geht einfach! Was für ein Schlappschwanz!
Die Thurebene engt ein
Gemeinsam mit Thomas entkommen wir der häuslichen Idylle von Ehefrau Astrid und den beiden Kindern. Nur wer jemals in Weinfelden gewohnt hat, wird umgehend nachvollziehen können, wie Thomas das Leben in der Thurebene als so drückend, so einengend empfinden kann. Stamm aber schafft es, dieses Gefühl auch Nicht-Thurgauern nahe zu bringen. Beim Lesen streifen wir mit Thomas durch die thurgauische Tristesse. Die Wälder. Wir überqueren den Fluss. Über die Bodenseeregion, Wil und Lachen landen wir schliesslich am Gotthard. Nicht immer ist klar, auf welcher Zeitebene wir uns da befinden. Sind es Erinnerungen? Oder ist Thomas diesen Weg in der Erzähl-Gegenwart gegangen?
Flucht vor dem Leben
„Weit über das Land“ ist aber nicht nur einfach ein Roman über die Schönheit des ländlichen Thurgaus. Der Roman ist auch oder vor allem ein Stück über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Über Liebe, über Hingabe. Immer weiter fliehen wir mit Thomas vor dem Leben. Man ahnt bald, welche Gründe ihn zu seinem Abschied bewogen haben könnten. Astrid ist eine Frau, mit der man einfach nicht warm wird, trotz allen Mitgefühls. Mehr als einmal möchte zumindest ich sie durchschütteln und sagen: „Frau, du nervst!“
Traurig, wie es sich für den Thurgau gehört
Thomas lässt alles hinter sich. Geld scheint ihm nicht mehr wichtig. Hin und wieder denkt er an Astrid zurück. Auch Astrid denkt an Thomas. Aber es ist klar, dass er für sie wohl nicht viel mehr als eine lieb gewonnene Gewohnheit darstellt - eine Gewohnheit, die sie nun vermisst. Ihre sanften Signale an den Polizisten, der ihre Vermisstenanzeige aufnimmt, entgehen der Leserin nicht. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich für sie fremd schäme.
Das Ende des Romans möchte ich nicht verraten, aber es ist überraschend und unerbittlich traurig. Ganz so, wie es sich für den Thurgau gehört.
*Zora Debrunner, Thurgauer Bloggerin und Autorin, wohnt seit gut einem Jahr im Toggenburg. Manchmal überkommt sie das Heimweh.
***
Peter Stamm: Weit über das Land. Verlag S.Fischer, 2016
Stamm und HölderinVor zwei Jahren hat der gebürtige Weinfelder Peter Stamm den mit 20‘000 Euro dotierten Friedrich-Hölderlin-Preis der deutschen Stadt Bad Homburg erhalten. Die Jury begründete ihre Entscheidung unter anderem mit Stamms genauem Blick, mit dem er das Leben seiner Personen durchleuchte, und einer Sprache, die „auf nüchterne Weise empathisch bleibt“. thurgaukultur.ch hatte ihn dazu befragt. Hier der Beitrag mit einem sehr schönen Video. (ho)
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