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Tuggisholz ist überall

Tuggisholz ist überall
Szene aus dem Stück: Marlene (Sonia Diaz) und Stef (Samuel Mosima) decken Geheimnisse auf | © Theater Bilitz

Über Monate haben sie daran gearbeitet, am Wochenende war nun endlich Premiere: Das Theater Bilitz holte Paul Steinmanns „Das Geheimnis von Tuggisholz" auf die Bühne des Theaterhaus Thurgau. Fast 200 Zuschauer sahen die Aufführungen am Samstag und Sonntag.

Von Michael Lünstroth

Die Szenerie ist karg. Drei Stühle, ein blanker, rechteckiger Holztisch, darauf Salz- und Pfefferstreuer, Bierdeckel, das war es. Die Botschaft ist klar - wir befinden uns in einer einfachen Beiz irgendwo im Nirgendwo. In einer kleinen Gaststätte, wie sie wohl jedes Dorf kennt. In diesem Ambiente startet das Stück „Das Geheimnis von Tuggisholz", das am vergangenen Wochenende seine Premiere im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden feierte.

Auf die Bühne gebracht wurde der von Paul Steinmann eigens für diese Arbeit geschriebene Text vom Weinfelder Theater Bilitz, Regie führte Giuseppe Spina. Der Premierenabend am Samstag war mit fast 100 Besuchern so gut wie ausverkauft und auch bei der Nachmittagsvorstellung am Sonntag blieben nur wenige Plätze frei. Als „Beizen-Oper" angekündigt, erlebten die Zuschauer eine Inszenierung, die sich jeder Etikettierung bewusst entzog.

Es war ein bisschen wie bei Tschechow - viel Gerede, wenig Handlung - und dann wieder gar nicht wie bei Tschechow. Während beim russischen Dichter trotz überschaubarer Handlung am Ende Welten aus den Angeln gehoben werden, deutet sich bei Steinmanns Text an, dass sich trotz ungeheuerlicher Vermutungen am Ende gar nichts ändert und die Welt weiter ihren Gang geht. Wer bei der Ouvertüre - wir sind ja immerhin formal in einer Oper - genau hinhört, dem wird schon hier verraten - trotz aller Geschehnisse wird die Welt in Tuggisholz gerade nicht auf den Kopf gestellt. Kurz vor dem Kippen kommt doch der alte Trott zurück.

Aber eins nach dem anderen. Erzählt wird die Geschichte auf zwei Ebenen: Über die Hauptfiguren Marlene (Sonia Diaz) und Stef (Samuel Mosima) und die live eingespielte Musik von dem Trio Daniel R. Schneider (Multi-Instrumentalist), Annika Dobler (Cello) und Francis Petter (Klarinette). Marlene ist die neue Wirtin des Gasthofes „Sternen", Steff ein einfacher Mann aus dem Dorf. Sie haben sich am Samstag zuvor kennengelernt, irgendwie Feuer füreinander gefangen und geknutscht. Die Geschichte beginnt an einem Mittwochabend, vier Tage nach dem ersten Techtelmechtel. Was das aber eigentlich bedeutet, darüber sind sich Marlene und Steff längst nicht mehr einig. Er drängt auf mehr Nähe, sie will Distanz und eigentlich mehr Geschichten über das Dorf erfahren.

Beide sind Suchende, aber sie wollen etwas anderes finden

Deshalb ist sie schließlich aus der Stadt nach dem Tod ihrer Mutter zurückgekehrt in dieses Tuggisholz, das sie nur aus Erzählungen und Gute-Nacht-Liedern kannte. Sie ist eine Suchende. Nach Heimat, Geborgenheit, Anerkennung und am Ende vor allem eine Suchende nach ihrem Vater. Steff ist Hochbauzeichner und irgendwie hängen geblieben in Tuggisholz. Ungelenk, ein bisschen treu-doof und nicht unbedingt der Hellste. Auch er hat Väter-Sorgen. Sein Vater ist nicht nur Heimatdichter , Vorsitzender des Kirchenchores und Unternehmer, sondern auch angesehene Persönlichkeit im Dorf. Steff fürchtet am Vorbild des Vaters zu zerbrechen, während Marlene zerbrechen zu droht, weil sie ihre Herkunft nicht kennt.

In dieser Stimmungsmelange finden sich die beiden für den Moment. Während sie sich noch verliebt anschauen beim Tanzen, ahnt jeder Zuschauer, dass das nicht lange gut gehen kann. Trotzdem begleitet man sie gerne durch diesen Abend, an dem sie Stück für Stück Geheimnisse des Ortes umkreisen und so der ganz grossen Enthüllung näher zu kommen scheinen. Da taucht die merkwürdige Nacktkult-Sekte auf, die eine Weile den Ort für sich entdeckt hatte, ein brennender Wald für den ein Unschuldiger aus dem Dorf gejagt wird, mögliche Sauna-Orgien im Hause von Steffs Vater, auch von Mord von verscharten Leichen ist die Rede.

Das vergebliche Warten auf die Erlösung

Und so steigern sich die beiden von einer Geschichte in die andere in etwas hinein, das so gewesen sein könnte oder eben auch gerade nicht. Es werden Schleifen gedreht, Rückschlüsse gezogen, der ganz grosse Knall bleibt aus. Für den Zuschauer ist das ein bisschen wie mit einem verzögerten Orgasmus. Man geniesst es eine Weile, wie die Handlung in immer weitere, mysteriösere und schauderhafte Vermutungen voran getrieben wird, aber irgendwann hätte man dann auch gerne die funkensprühende Lösung, die alles offenlegt. Allein - das Stück verweigert dieser Erlösung konsequent. Man kann sich davon frustrieren lassen. Oder noch mal darüber nachdenken.

Denn in der Realität ist es sehr wahrscheinlich doch viel häufiger so, wie Steinmann und Spina es hier beschreiben: Trotz schäbigster Geschehnisse, dreht sich am Ende die Welt doch in ihrem alten Trott weiter. Wie oft denkt man tatsächlich, nach diesem oder jenem Ereignis muss sich doch jetzt mal was ändern. Und nach der anfänglichen Empörung, ändert sich am Ende eben doch nichts. Wenn man so will, ist Paul Steinmanns „Das Geheimnis von Tuggisholz" nicht nur eine Geschichte über hinterwäldlerische Dörfer, sondern eine Parabel auf unsere Zeit.

Zumindest in der Theorie des Textes ist das mit angelegt. Die praktische Umsetzung auf der Bühne kann mit dem nicht ganz mithalten. Es bleibt da eher auf einer zweidimensionalen Ebene hängen. Bei einem solchen Kammerspiel hängt viel von der Leistung er Schauspieler ab. Hierzu muss man feststellen: Das Schauspiel-Duell der beiden Protagonisten ist zu ungleich. Während Sonia Diaz als zweifelnde Wirtsfrau spielerisch und stimmlich überzeugt, wirkt Samuel Mosima nicht im Reinen mit seinem Steff. Vor allem in der ersten Hälfte des Stücks passt der Anzug nicht, später wird es immerhin besser, Mosima scheint sich mit der Loser-Rolle angefreundet zu haben.

Die musikalischen Arrangements sitzen passgenau

Was hingegen richtig gut funktioniert, ist das Zusammenspiel von Musik und Handlung. Daniel R. Schneider, der musikalischen Leiter des Theater Bilitz, hat wunderbare Arrangements und Leitmotive für Szenerie und Figuren geschrieben, die er dann gemeinsam mit Annika Dobler und Francis Peter passgenau auf der Bühne umsetzt.

Und Tuggisholz? Bleibt am Ende wohl das alte Tuggisholz. Auch wenn sich Marlene mit geladener Knarre auf den Weg zu Steffs Vater macht. Sie will die Vergangenheit aus ihm herauspressen. Wird es etwas ändern? Kommt es zu einem weiteren Mord? Es bleibt offen. Aber so oder so. Tuggisholz wird am Ende bleiben wie es war. Das Rad der Geschichte läuft hier langsam, aber unaufhaltsam und beharrlich seinen geraden Weg entlang. Komme, was wolle.

www.bilitz.ch

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