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Von Schweizern und Schweizer Männern

Von Schweizern und Schweizer Männern
Ab wann ist man eigentlich Schweizer? Die aktuelle Frage in unserer Kolumne "Die Dinge der Woche" | © Thurgaukultur

Wann ist ein Schweizer ein Schweizer? Eine Ausstellung im Napoleonmuseum gibt einer alten Frage neue Aktualität. Und zeigt eindrucksvoll: Nicht alles was juristisch richtig ist, ergibt im echten Leben Sinn.

Von Michael Lünstroth

Herbert Grönemeyer hat vor Jahrzehnten mal eine berechtigte Frage gestellt: Wann ist ein Mann ein Mann? In seiner liedartigen Bewältigung dieses Themas heisst es unter anderem «Oh Männer sind einsame Streiter/Müssen durch jede Wand, müssen immer weiter» Das hatte damals, der Song stammt aus dem Jahr 1984, beinahe prophetischen Charakter. Selten wurde die aktuelle Krise der Männlichkeit in zwei Versen treffender beschrieben als dort. Ohne in dem konkreten Fall weiter ins Detail zu gehen, wenden wir uns des eigentlichen Pudels Kern zu, wie ein Herbert Grönemeyer in seiner lyrischen Begabung kaum einen Deut nachstehender deutscher Dichter wohl sagen würde. Es ist die Frage, ab wann man zu einer bestimmten Gruppe gehört. Was definiert Zugehörigkeit? Und vor allem: Wer definiert das?

Diese Fragen drängte sich wohl manchem Besucher der aktuellen Ausstellung im Napoleonmuseum auf. Darin geht es, grob gesagt, um den Ersten Weltkrieg und die Beteiligung von Schweizern als Soldaten im Deutschen Heer. Ein Thema, das bislang kaum erforscht wurde. Museumsdirektor Dominik Gügel hat sich der Geschichte angenommen und herausgefunden, dass etwa 50.000 Männer aus der Schweiz am Krieg auf der Seite Deutschlands teilnahmen. Er beruft sich dabei auf einen Zeitungsbericht, der nach dem Ende des Gemetzels erschien. Darin schätzte die Schweizer Armee die Zahl der Eidgenossen in der deutschen Armee auf eben jene 50.000. Diese Zahl überraschte viele Besucher, sie warf Fragen auf. Vor allem diese hier: Wie viele dieser 50.000 waren tatsächlich Schweizer? Und wie viele waren zufällig in der Schweiz lebende Auslandsdeutsche?

Am Ende ist es vor allem eine semantische Unterscheidung

Dominik Gügel macht keinen Hehl daraus, dass er bei der Konzeption der Ausstellung wusste, dass das zu Diskussionen führen könnte. Klar ist wohl so viel: Viele der Soldaten waren in der Schweiz geborene und/oder aufgewachsene Auslandsdeutsche. Einerseits. Andererseits „gab es in der gesamten Deutschschweiz viel Sympathie für das Deutsche Reich, wie die Begeisterung beim Startsbesuch Wilhelms II. im Jahr 1912 zeigt“, erklärt Museumschef Dominik Gügel. Wie viele davon aber letztlich wirklich auch im rechtlichen Sinne Schweizer Bürger waren, könne man derzeit nicht sagen. Die Recherchen dazu stünden erst am Anfang, die Recherchewege seien zudem kompliziert, nicht alle Daten, die man bräuchte für einen eindeutigen Befund seien derzeit zugänglich. Im Begleitbuch zur Ausstellung führt der Museumschef das noch etwas weiter aus: "Die publizierten Verlustlisten des Ersten Weltkriegs (Tote/Verwundete/Vermisste/Gefangene zusammen) nennen ca. 3900 Personen aus der Schweiz. Die tatsächliche Zahl liegt aber wesentlich höher, da bei den Herkunftsorten (zum Beispiel Basel) die Bezeichnung "Schweiz" oft fehlt." Auch deshalb betont Gügel, dass in seiner Ausstellung und im Begleitbuch semantisch immer korrekt von „Männern aus der Schweiz“ gesprochen werde und eben nicht von „Schweizer Männern“. 

Spannend und hochaktuell ist daran auch die Frage, die dahinter liegt: Ab wann ist man eigentlich Bürger eines Landes? Wenn man dort lebt und arbeitet? Wenn man sich am Gemeinwesen beteiligt? Oder eine Nummer tiefer: Ab wann ist man Kreuzlinger, Frauenfelder, Weinfelder, Amriswiler oder Romanshorner? Gibt es das nur qua Geburt oder kann man diesen Status auch erwerben? Juristisch ist diese Frage zumindest auf Landesebene einwandfrei zu beantworten. Nach dem Gesetz ist man Schweizer, wenn man einen Schweizer Pass hat. Punkt. Das Leben ist aber mehr als Juristerei und da kann man sich zu einem Land, zu einer Stadt zugehörig fühlen, ohne dass einem Behörden das Recht dazu erteilt haben. Für die Ausstellungsmacher um Dominik Gügel war die Frage des juristischen Einwohnerstatus der Männer letztlich irrelevant, sagt der Museumschef. 

Egal woher die Soldaten kamen, sie trugen ihre Geschichte ins Land

Denn: „Auch wenn viele der Männer damals vielleicht juristisch keine Schweizer waren, viele von ihnen sind es nach dem Krieg geworden, weil sie sich in der Schweiz niedergelassen haben, möglicherweise eingebürgert wurden, ihr neues Leben dort aufbauten und so die Geschichte des Ersten Weltkriegs und ihre Erlebnisse auch in das nationale Gedächtnis der Schweiz eingeschrieben haben“, sagt Gügel. Genau diese Geschichten sind es, die die Ausstellungsmacher im Napoleonmuseum erzählen wollen. 

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