von Barbara Camenzind, 19.01.2022
12 Klänge von Heimat
In dem Projekt „Solos & Sights“ kommen 12 Musiker:innen mit Migrations/Fluchterfahrung zusammen. In Frauenfeld hatte das Projekt von Simone Keller und San Keller jetzt erste öffentliche Begegnungen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Spurensuche. Menschen klingend sichtbar machen. Die beiden Arbeitstage des Projektes „Solos & Sights“, das das Thurgauer Kulturamt seit einigen Monaten für die Internationale Bodenseekonferenz (IBK) realisiert, begannen mit Solos der Musikerinnen im öffentlichen Raum. In der Einkaufspassage wurde gerappt, Oud-Klänge ertönten in der Buchhandlung, gesungen wurde auf dem Velo-Parking, im botanischen Garten, aber auch klassischere Konzertorte wie die Bühne des Eisenwerks und der Musikschule erprobt. Spüren was passt. Spüren, was nachwirkt.
„Wir wollen Musiker:innen aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Instrumenten und ganz unterschiedlichen Backgrounds zusammenbringen“, erklärt die Musikerin Simone Keller das Konzept des Projektes. Sie leitet das Vorhaben gemeinsam mit dem Künstler San Keller, Regisseur Erik Altorfer und Schriftsteller Usama Al Shahmani.
Worum es geht und worum es nicht geht
Es geht den Initant:innen dabei explizit nicht darum, Fluchtgeschichten aufzuarbeiten, sondern die gemeinsame Arbeit soll Künstlerinnen und Künstler in ihrem Schaffen voranbringen und inspirieren. Es geht um das Unterstützen einer selbstbewussten Setzung einer eigenen Position und des eigenen Fremd-Seins“, betonte die Pianistin Simone Keller in einem Gespräch im vergangenen Sommer. „Solos & Sights“ verstehe sich als Plädoyer für kulturelle Diversität und wolle auch den Diskurs über die Förderung von kultureller Diversität anstossen.
Die öffentlichen Auftritte in Frauenfeld waren nun ein erster Schritt raus aus dem Workshop, rein ins Leben – hin zu den Menschen.
Das Ziel: Gute Leute treffen, Inspiration für die eigene Arbeit bekommen
Die Passantinnen und Passanten schienen diese Sichtbarmachung der Künstler:innen aus dem Bodenseeraum mit Wohlwollen aufgenommen haben. Der Rapper MC Manar aus Stuttgart berichtete von angeregten Gesprächen nach seinem Auftritt vor den Kleidershops. „Die Leute haben sich bedankt für den coolen Beitrag und die Message, dass Musik uns alle verbindet, über die Nationen hinaus.“
Der junge Mann aus Syrien lebt seit neun Jahren in der Bodenseeregion und hat erfolgreich seinen Realschulabschluss absolviert. Musikalisch konnte er bereits seine Fühler ausstrecken und arbeitete mit dem Chor Murphy Singers zusammen. Er erhoffe sich hier neue Vernetzungsmöglichkeiten. Gute Leute treffen - und dass er neue Themen für seine Musik bekomme. Die er baue, nicht komponiere, wie er feststellte.
Ein Instrument als Bückenbauer zwischen Kulturen
Sein Landsmann Marwan Jabr aus Appenzell ist mit der Oud, seiner schönen arabischen Laute angereist. Wie einige andere Teilnehmende auch. Spätestens seit dem Erfolg der Weltmusik-Band Radio Tarifa ist dieses Instrument mit seiner Klangvielfalt als Brückenbauerin zwischen Kulturen und Musikstilen bekannt. Marwans traditionell syrisches Oudspiel hat in Appenzell gerade in kirchlichen Kreisen schon etwas Anklang gefunden. Von diesem Wochenende erhoffe er sich, einerseits Gleichgesinnte zu treffen und neue Wege zu entdecken, wie er sich und seine Musik bekannter machen könne.
An beiden Tagen bestand für die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit dem Medium Podcast zu arbeiten. Zusammen mit dem Regisseur Erik Altorfer, dem Frauenfelder Schriftsteller Usama Al Shamani und dem Künstler San Keller, konnten die Musiker:innen ihre Klänge, ihre Ideen mit Texten und Geräuschen in hörbare Bilder transformieren.
Podcasts als schöpferisches Gefäss
Der Thurgauer Gitarrist Rami Msallam entpuppte sich dabei als gewiefter Fachmann auf diesem Gebiet, der zusammen mit Nihad Sayed Khalil (St. Gallen) als Texter ein wunderschönes Produkt vorstellte. Auch wenn man die Sprache nicht verstand: Das Vogelgezwitscher, die elegischen Klänge der Laute, die lautmalerisch eingesetzten Geräuschen und zum Schluss die Bahnhofsansage der SBB, welches wieder im Vogelgezwitscher unterging machten fühlbar, was jenseits der Sprache liegt.
Es ist der unendlich schwierige Weg, den die Künstler bis hierher gehen mussten mit ihrer Flucht, das Heimweh, aber auch die Hoffnung auf ein besseres Leben und darauf, sich eine Zukunft bauen zu können. „Ohne uns gibt es keine Musik“ lautete das Statement Rami Msallams.
Dass Teilnehmende im Workshop so den Lead über ihr eigenes schöpferisches Schaffen übernahmen, war ganz im Sinne von Simone Keller und ihren drei Kollegen. Sie verstanden ihre Funktion stets als Begleitung.
Weisse Flecken in der Kulturlandschaft
„Es kommt nicht von ungefähr, dass wir hier in den Räumen des Thurgauer Kulturamts arbeiten“, erzählte Simone Keller. Es sei für sie enorm herausfordernd gewesen, für Solos & Sights Teilnehmende zu finden. Das heisst, für die Ämter der Mitgliedsstaaten der IBK. Etablierte Künster:innen waren nicht vorgesehen - und Profimusiker:innen mit Migrations/Fluchthintergrund zu finden, setzte voraus, sich über die Gräben unserer Parallelwelten hinweg zu begeben.
Die Beamten konnten nicht einfach eine bekannte Person aus der Musikszene anrufen. Denn die kannten meistens auch niemanden, auf den das Profil passte. An einer Stelle reagierte man sehr ungehalten. Man wolle eigentlich mit „solchen Leuten“ nichts zu tun haben. Es zeigt: Auch die Kulturlandschaft hat ihre weissen Flecken. Wenn allein durch Anmelde-Vorgaben dieses Projekts ein erster Schritt zum Umdenken geschaffen wurde, dann hat es sich gelohnt.
Am 25. Juni soll Frauenfeld noch mehr klingen
Kulturelle Teilhabe und die Förderung von Kulturschaffenden sollen für die erreichbar sein, die förderungswürdig sind. Dafür steht Solos & Sights. Das ist paritätisches Kunstschaffen auf hohem Niveau.
Wie geht es weiter? Das ist in diesen Zeiten nicht einfach vorauszusagen, aber Simone Keller hat für das Projekt bereits mutig ein Ziel gesetzt. Am 25. Juni wird Frauenfeld von Solos & Sights bespielt. Ob in der Einkaufspassage, der Buchhandlung oder im Konzertsaal, das werden die Menschen, die an an diesem Wochenende miteinander arbeiteten, mit dem Amt für Kultur weiter entwickeln. Auf jeden Fall wird das ein Termin sein, den man sich merken sollte.
Die Künstlerbegegnung der Internationalen Bodenseekonferenz
Die Künstlerbegegnung: Die Länder und Kantone der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK) wechseln sich in der Organisation der biennal ausgerichteten Künstlerbegegnungen ab. Ziel der Künstlerbegegnungen ist es, zwischen den Kulturschaffenden rund um den Bodensee einen künstlerischen Dialog über die Grenzen zu schaffen und neue Verbindungen zu initiieren. Im Austausch und im Zusammenspiel soll Neues entdeckt werden und die Öffentlichkeit erhält Gelegenheit, die kulturelle Vielfalt und die Gemeinsamkeiten der Bodenseeregion unmittelbar zu erleben.
Die Internationale Bodenseekonferenz: Die IBK ist ein kooperativer Zusammenschluss der an den Bodensee angrenzenden und mit ihm verbundenen Länder und Kantone Baden-Württemberg, Schaffhausen, Zürich, Thurgau, St.Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Fürstentum Liechtenstein, Vorarlberg und Bayern. Die IBK hat sich zum Ziel gesetzt, die Bodenseeregion als attraktiven Lebens-, Natur-, Kultur- und Wirtschaftsraum zu erhalten und zu fördern sowie die regionale Zusammengehörigkeit zu stärken.
Mehr lesen zum Projekt:
Neue Töne: Vorschau auf das Projekt aus dem Juli 2021.
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