Seite vorlesen

von Sascha Erni, 09.11.2014

Fest für Leser und Autoren

Fest für Leser und Autoren
"Lesefest" in Winterthur: Grossartige Bühne für Texte. | © Sascha Erni

Am 8. November 2014 fand in Winterthur das «Lesefest» statt: Der Vidal Verlag stellte seine Buchneuheiten vor. Neben den Autoren Jean Willi und Roger Graf las auch die Thurgauer Bloggerin Zora Debrunner. Sowie achtzehn Kurzgeschichtenautoren und -autorinnen. Zu viel? Mitnichten.

* Sascha Erni

Es ist ein kühler, aber sonniger Samstag, an dem der Winterthurer Vidal-Verlag Leser, Autoren und Autorinnen zum Lesefest 2014 einlädt. Die Verlegerin Fatima Vidal präsentiert heute vier Bücher. Eine ganze Menge, besonders für einen Kleinverlag. Entsprechend gespannt erwartete ich die Vernissage: Würde genug Zeit für alle Autoren bleiben? Und wie stellt man eine Anthologie mit 41 (!) Kurzgeschichten vor? Der Ort für Lesung und Vernissage ist gut gewählt: eine genossenschaftliche Überbauung mit Restaurant und eigenem Festsaal im ehemaligen Industriequartier von Oberwinterthur.

Das Lesefest des Vidal Verlags fand im Giesserei-Saal in Oberwinterthur statt. (Alle Bilder: Sascha Erni)

Als ich eintreffe sitzen die ersten Autoren und Autorinnen beisammen, trinken Kaffee und essen Kuchen. Manche kennen sich, andere nicht, aber schnell wird geduzt. Es stossen Gäste hinzu, Berührungsängste gibt es nicht, die Stimmung ist gelöst und freundlich. Einige werden heute das erste Mal in ihrem Leben einen eigenen Text vortragen, andere leben seit einem Vierteljahrhundert vom Schreiben. Neugierig sind sie alle, auf die Geschichten, auf die Menschen dahinter.

Der Saal füllt sich, am Ende werden sich rund 80 Menschen einfinden.

Anja Knabenhans liest ihre Minute aus «Die Frau im Zug».

Den Anfang macht «Die Frau im Zug». Achtzehn Autorinnen und Autoren lesen jeweils rund eine Minute aus ihren Geschichten vor, stehen aus dem Publikum auf oder treten an die Mikrofone, eine Autorin wagt sich auf die Bühne, ein anderer improvisiert frei. So vielfältig wie die Biographien der Schreibenden – von der Journalistin zum Rentner, vom Lichtgestalter zur Berufsschriftstellerin – sind auch die Geschichten: Eine Sammlung skurriler und berührender Momente, Kurzkrimis und Science-Fiction, Fantasy und Gesellschaftskritik, romantische Erzählung und Comedy, alles inspiriert von der einen Frage: Wer ist die Frau im Zug?

Die Wirkung der wilden Mixtur aus Stilen und Genres ist überraschend. Ich fühle mich wie am Perron, während Schnellzüge durchrasen: Man sieht immer nur einen Bruchteil einer (möglichen) Geschichte, eingerahmt durch die vorbeiziehenden Fenster. Schnappschüsse. Die Zweifel verfliegen – angemessener kann man eine so vielfältige Anthologie wohl nicht in Form einer Lesung vorstellen. Ich bin froh über die Pause, nutze sie, um die Eindrücke zu sortieren.

Jean Willi liest aus seinem neuen Roman «Ödipus im Hier und Jetzt».


Es folgt Jean Willi. Der Basler Wahl-Spanier wählt nicht den Einstieg seines komplexen Romans «Ödipus im Hier und Jetzt» sondern wirft die Zuhörer mitten ins Geschehen. Seine ruhige und exakte Diktion würde sich auch in einem Hörbuch gut machen. Keine Effekthascherei, keine übertriebene Dramatik, die farbigen Sprachbilder stehen auf einem soliden akustischen Fundament.

Ich werde neugierig auf diesen Roman, obwohl ich die Zusammenhänge nur schwer nachvollziehen kann – die geschliffene Sprache, die gezielt gesetzten Schlüsselwörter, die sofort greifbaren Figuren lassen erahnen, dass der Roman klug aufgebaut ist, nichts ohne Sinn und Verstand geschieht, human aber nicht moralisierend sein wird. Willis Lesung macht Lust auf mehr.

Zora Debrunner liest am Lesefest aus ihrem Erstling «Lavinia Morgan – Privatdetektivin».

 

Als nächste betritt Zora Debrunner die Bühne. Dass die mit einer Grimme-Online-Award-Nomination geehrte Autorin und Bloggerin vor der Lesung die Zuhörer ermuntert, doch gerne zu twittern, hat seinen guten Grund: Ihr Roman «Lavinia Morgan – Privatdetektivin» fand seine erste Heimat im Internet und seine Leserinnen und Leser über soziale Medien wie Twitter und Facebook.

Ironisch, bedenkt man den Hintergrund des Romans: Die «Roaring Twenties» in London, eine 17jährige Miss Marple, die in einen schwedischen Hercule Poirot verliebt ist und Fälle löst, die selbst Sherlock Holmes absonderlich vorgekommen wären. Die vorgetragene Passage überzeugt mit skurrilem Witz, der von Debrunners Darbietung gekonnt auf die Spitze getrieben wird, ohne ins Absurde abzuwandern. Eine bemerkenswerte Leistung, bedenkt man, dass in besagter Passage Musiker mit Klavieren erschlagen werden.

Roger Graf signiert seinen neuen Stauffer-Krimi «Der schöne Tod».

 

Kriminalistisch geht es weiter, als Roger Graf ans Mikrofon tritt. Nicht ohne eine gewisse Selbstironie stellt er klar, dass er eigentlich nicht so gerne Lesungen gibt, da die Zuhörer oft «Maloney» erwarten und sich dann vom (etwas) ernsteren Ton der Stauffer-Krimis irritiert zeigen. Die Vorwarnung wird vom Publikum mit einem Lachen quittiert, von manchen «Stauffer»-Fans kombiniert mit einem wissenden Nicken.

Auch wenn sich Graf (etwas) vom Humor des Sonntagmorgen-Radio-Detektivs distanziert hat wird schnell klar: Bierernst ist auch «Der schöne Tod – Stauffers vierter Fall» nicht. Die gewitzten Dialoge, von subtil bis derb, lassen eine Vielzahl der Besucher im Anschluss die Büchertische frequentieren. Graf trägt mit einer beeindruckenden Lockerheit und Selbstverständlichkeit vor, ohne flapsig oder selbstgefällig zu werden, so dass ich mir wünschte, SRF3 würde einen ähnlichen Ansatz wählen.

Gut besucht, und aus gutem Grund: Das Lesefest 2014 des Vidal Verlags.

 

Mit einem Apéro schliesst das Lesefest. Die Autorinnen und Autoren signieren Exemplare. Telefonnummern, Mailadressen und Twitter-Namen werden ausgetauscht. Es wird viel gelacht, aber auch diskutiert. Wie steht es um die Kleinkunst, wie um Kleinverlage? Welche Rolle spielt das Internet? Benötigt die schreibende Zunft heute überhaupt noch Verlage, wenn man sein Werk auch selbst als eBook veröffentlichen könnte?

Verlegerin Fatima Vidal zeigt sich sichtlich erfreut über das Lesefest 2014.

 

Am Schluss, es ist schon dunkel und bücherbepackte Besucher machen sich mit Velo, Zug oder Auto auf den Heimweg, frage ich Fatima Vidal, ob sie mit dem Lesefest zufrieden sei. «Sehr zufrieden», gibt sie zurück, während sie einer Autorin die Hand schüttelt und am Büchertisch den Abtransport der wenigen verbliebenen Exemplare regelt. Ich frage, ob sie demnach solche Lesefeste wieder machen würde? Vier Bücher, 21 Lesende, der ganze Aufwand an Zeit und Geld? Der ganze Stress? «Immer. Ich würde es immer wieder machen.»

Und ganz ehrlich gesagt wäre ich froh darüber, wenn das mehr Kleinverleger auch so sehen würden.

***

* Sascha Erni lebt mit Zora Debrunner im Konkubinat.

 

Die vier Neuerscheinungen

Verschiedene: Die Frau im Zug. Winterthur, Vidal Verlag 2014. ISBN 978-3-9523734-6-0;
Jean Willi: Ödipus im Hier und Jetzt. Winterthur, Vidal Verlag 2014. ISBN 978-3-9524368-0-6;
Zora Debrunner: Lavinia Morgan – Privatdetektivin. Winterthur, Vidal Verlag 2014. ISBN 978-3-9523734-4-6;
Roger Graf: Der schöne Tod – Stauffers vierter Fall. Winterthur, Vidal Verlag 2014. ISBN 978-3-9523734-8-4

 
***

Mehr zum Thema:

Vom Netz aufs Papier- thurgaukultur vom 8.01.2014
Zora Debrunner bleibt die Ehre- thurgaukultur vom 27.06.2014
Unterwegs zum Online Award
- thurgaukultur vom 24.05.2014
Für Grimme Online Award nominiert! - thurgaukultur vom 21.05.2014

www.vidalverlag.ch

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Literatur

Kommt vor in diesen Interessen

  • Lesung

Werbung

Der Kulturpool: Highlights aus den Regionen

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

«Kultur trifft Politik» N°2

„Die Zukunft bauen – wie Stadt-/Gemeindeentwicklung und Kultur voneinander profitieren können.“ Eine Veranstaltung zur Förderung des kulturpolitischen Diskurses. Di. 13.5.2025, Apollo Kreuzlingen. Jetzt anmelden!

Offene Stelle Kult-X Kreuzlingen

Das Kult-X Kreuzlingen sucht ab sofort ein Teammitglied (30-40%) für den Admin/Koordinationssupport. Zum Stellenbeschrieb geht es hier:

Ähnliche Beiträge

Literatur

Der andere Heimatroman

Benjamin von Wyl las im Kreuzlinger Horstklub seine satirische Dystopie „Land ganz nah“ – eine Nahaufnahme der Schweiz im Bürgerkrieg der kommenden Jahre. mehr

Literatur

Ästhetisch ziemlich eigensinnig

Zsuzsanna Gahse stellte im Literaturhaus Bodman ihr neues Buch „Siebenundsiebzig Geschwister“ vor und hatte Mitgefühl mit ihrem Publikum. mehr

Literatur

Die Randsportart im Zentrum

Zur Eröffnung des 10. Literaturwochenendes am Untersee in Ermatingen erlebten Politprominenz und Publikum die Vorpremiere von Dieter Bachmanns neuem Roman „Inventur – Abschied von den Dingen“  mehr