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von Sascha Erni, 10.04.2017

Wenn Grenzen verschwimmen

Wenn Grenzen verschwimmen
Referentin oder Teilnehmer? Das spielt beim Grenzdenken am Lilienberg eine immer geringere Rolle. | © Sascha Erni

Über Grenzen reden und Brücken bauen: Am 7. und 8. April 2017 fand im Unternehmerforum Lilienberg in Ermatingen zum dritten Mal die «Grenzdenken»-Konferenz statt – mit 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. 

Von Sascha Erni

«Ausverkauft» prangte schon Wochen vor dem Anlass auf der Homepage www.grenzdenken.ch . Und tatsächlich, seit dem ersten Grenzdenken 2015 konnte die Konferenz stetig wachsen. Dieses Jahr fanden sich 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, um zusammen mit zehn Referenten bei schönstem Frühlingswetter auf dem Lilienberg ihre eigenen Grenzen auszuloten. Dabei wich das Grenzdenken nicht vom Erfolgsrezept der letzten Jahre ab: Die Themenauswahl war auch 2017 ein Mix aus Sachlichem, Persönlichem, Absurdem, Berührendem und Lustigem.

Seit 2015 fasst der Illustrator Roland Siegenthaler, hier im Gespräch mit dem Referenten Wilhelm Schmid, die Grenzdenken-Vorträge satirisch-gekonnt zusammen. Bild: Sascha Erni

 

Der Organisator Christoph Lanter eröffnete die Konferenz mit einer Aufforderung: «Das Denken steht am Anfang. Aber man muss dann auch Erfahrungen sammeln.» In diesem Sinne zogen sich Grenzerfahrungen wie ein roter Faden durch die zwei Tage. Und damit auch die Frage, wo Grenzen liegen, ob sie polarisieren oder nicht doch Möglichkeiten für Brücken aufzeigen.

Das Leben ist (vielleicht?) nicht schwarzweiss

«Selbstmord war nie eine Option.» Daniela Widmer erzählt im Halbdunkel von ihrer Flucht vor den Taliban. Bild: Sascha Erni


Als die ehemalige Polizistin Daniela Widmer ihre Entführung in Pakistan in Worte fasste, demonstrierte auch ihre gesamte Körpersprache: Da war jemand an seine Grenzen gekommen. Und hat überlebt. Aber ihr eindrückliches, verstörendes Referat zeigte auch, dass ein Schwarz/Weiss-Schema zu simpel wäre. Wenn Widmer spricht, fragt man sich bald, ob das monatelange ununterbrochene Surren der US-amerikanischen Drohnen sie nicht fast mehr traumatisiert haben könnte als es die islamistische Taliban taten.

In diesem Sinne war das Eröffnungsreferat von Dieter Rappold gut gewählt. Mit seinem «Plädoyer für Grau» zeigte der Wiener Unternehmer einerseits die Gefahren von Echokammern für Gesellschaft und Demokratie auf, kritisierte aber andererseits auch Auswüchse der heute eher positiv behafteten Sharing-Economy. Wenn ein Business Developer mit den Worten «Make Satire Great Again!» schliesst, wird klar: Grenzen werden oft mit einem Entweder/Oder begründet, dabei bräuchten wir mehr Diversität.

Und so sollte es die gesamte Konferenz über weitergehen.

Dr. Matthias Wipf (rechts) im Gespräch mit der Thurgauer Athletin Catherine Debrunner. Bild: Sascha Erni

 

Die Thurgauerin Catherine Debrunner schaffte es als Rollstuhl-Athletin bis zu den olympischen Spielen in Rio und möchte 2020 in Tokio antreten – schliesst aber trotzdem zuerst ihre Ausbildung zur Primarschullehrerin ab. Das muss sich nicht ausschliessen, wie Debrunner klar machte. Im Gegenteil.

Als der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid wortgewandt und gewitzt über «Grenzen der Freundschaft» referierte, erhob er weder inhaltlich noch formal einen Anspruch auf die eine «Wahrheit». Das Absolute wäre ja auch zu langweilig, ihn interessierte eher das, was er die «Grundatmung» der Freundschaft, aber auch der Liebe, nannte. Das Pendeln zwischen Polarisierung und Potenzierung, Trennung und Verstärkung. Die Grenze selbst? Die steckt im Kopf.

Der Wahlberliner Wilhelm Schmid erklärt trockene philosophische Konzepte mit viel Humor und einer angenehmen Direktheit. Bild: Sascha Erni

Form follows function

Ein Novum 2017: Am Anschluss an die Referate des ersten Tages führten die ReferentInnen Diskussionen in Kleingruppen, so genannte Breakout-Sessions. Als Beobachter war es interessant zu sehen, wie sehr diese Breakouts die Referenten spiegelten. In der Gruppe des Spezialisten für agile Organisation Mischa Ramseyer wurde die Themenfindung zwar basisdemokratisch getroffen, aber mit technischen Mitteln beschleunigt. Beim ehemaligen Gemüsehändler und Unternehmer Luciano Marinello hingegen ging es so bunt, lebendig und freundlich-chaotisch zu und her, wie es sein Vortrag «Vom König zum Knecht» zuvor schon war.
Rappold wiederum führte eine klassische Frage-und-Antwort-Session, der an Frontalunterricht erinnerte – so, wie auch sein Referat verlaufen war. Und Susan Rößner? Die Konstanzer Wissenschaftlerin und Unternehmerin lebt so weit es geht ohne Plastik, bleibt dabei aber undogmatisch. Dass sich ihre Gruppe zwischen Sitzungszimmer und Vorgarten traf, war die perfekte Illustration ihres Vortrags.

Halb drinnen, halb in der Natur: Susan Rößner (2.v.l) spiegelt in der Breakout-Session ihren vorhergegangenen Vortrag. Bild: Sascha Erni

Grenzen als Brücken

Die Breakouts waren nicht die einzige Neuerung gegenüber den Vorjahren. Das erste Mal gab es auch musikalische Begleitung durch den Radolfzeller Pianisten Tom Klein, der dann im Anschluss als Teilnehmer bei der Konferenz mitmachte. Überhaupt war die Grenze zwischen «Publikum» und «Aktivem Teil» dieses Jahr noch durchlässiger als zuvor, eine ganze Stunde der Konferenz-Zeit war für spontane Interviews und «Teilnehmer-Inputs» mit dem Publizisten und Moderator Matthias Wipf fest eingeplant.

Der «Wiederholungstäter» Stefan Binz konnte wegen eines kurzfristigen Krankenhausaufenthalts nicht auf den Lilienberg, also besuchte er die Konferenz kurzerhand per Roboter. Bild: Sascha Erni

 

War das Grenzdenken 2017 erfolgreich? Hört man auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dann ja. Viele sind Wiederholungstäter, hatten sich den Aufenthalt im Unternehmerforum Lilienberg fest eingeplant. Es bleibt zu hoffen, dass die Konferenz noch lange weitergeführt wird. Denn was sich nach drei Jahren abzeichnet, ist eine willkommene Ironie: Man spricht von Grenzen, aber eigentlich werden Brücken gebaut.

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