von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 30.10.2023
Der lange Weg zur Inklusion
Die Thurgauer Kulturkonferenz schaffte ein Bewusstsein dafür, was der Slogan „Kultur für alle“ wirklich bedeutet. Wie aus den Erkenntnissen Handlungen werden, blieb allerdings weitgehend offen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Vereinfacht gesagt: Aktivismus zielt darauf ab, soziale, politische oder kulturelle Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen. In der Regel ist das ein mehrstufiger Prozess. Es dauert ja meistens etwas bis Menschen ein Problem als das ihre anerkennen. Zu diesem Erkenntnisprozess zählen grob vor allem diese Dinge: Die Schaffung von Bewusstsein für ein bestimmtes Problem oder eine soziale Ungerechtigkeit, Bildung und Informationsvermittlung, Mobilisierung und schliesslich irgendwann eine Handlung, die den Anfang der gewünschten Veränderung einläutet.
Nimmt man diese Herangehensweise als beispielhaft für Aktivismus, dann lässt sich die zweite Thurgauer Kulturkonferenz, die am Samstag im Kreuzlinger Kult-X stattfand, als lupenreine, aktivistische Veranstaltung verstehen. Und das ist ganz und gar nicht negativ gemeint, denn ohne Aktivismus gibt es keine gesellschaftliche Veränderung. Kulturstiftung des Kantons Thurgau, das Kulturamt und die Kulturkommission des Kantons hatten zu der Tagung unter dem Schlagwort „Aufmachen!“ eingeladen. Ziel war es darüber zu diskutieren, was der gern gepredigte Begriff der kulturellen Teilhabe bedeutet und wie man ihn in der Praxis leben kann.
Das Thema trifft einen Nerv
„Die 2. Thurgauer Kulturkonferenz geht den Fragen nach, was geschehen muss, damit der Zugang zu Kultur für Alle einfacher gestaltet ist. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit auf Worte Taten folgen können?“, hiess es in den Ankündigungen zur Konferenz und ganz offenbar haben die Veranstalter damit einen Nerv getroffen. Dass an einem Samstagvormittag mehr als 60 Menschen über ein so sperriges Thema diskutieren wollten, zeigt, wie wichtig das Thema noch immer ist. Auch 44 Jahre nachdem Hilmar Hoffmann den Begriff des „Kultur für alle!“ in seinem viel beachteten Bucht begründete.
„Aufmachen heisst auch, dass etwas zu ist“, sagte Moderatorin Jasmin Albash zum Start der Konferenz. Aufgabe der Tagung sei es nun eine Antwort auf die Frage zu geben, wie man diese Geschlossenheit aufbrechen könne. Auf dem Weg dahin hatten sich die Veranstalter einige kluge Gedanken gemacht, wie man das Ziel an einem Samstagvormittag erreichen könnte. Und dabei durchaus aktivistische Methoden angewandt.
Aktivismus wie aus dem Lehrbuch
Erstens: Die Schaffung von Bewusstsein für ein bestimmtes Problem. Das war ein leichtes Spiel am Samstag, da die meisten der Besucher:innen, allesamt aus der Kultur-Bubble, also Veranstalter:innen, Kulturschaffende, Kulturinteressierte, längst wissen, dass bestimmte Bevölkerungsteile von ihren Programmen nicht erreicht werden. Und sie ein grosses Eigeninteresse daran haben, das zu ändern, sei es auch nur deshalb, um das eigene Publikum zu vergrössern.
Zweitens: Bildung und Informationsvermittlung, gerne auch mit Hilfe von Humor. Diese Aufgabe übernahm der Comedian Kiko an der Konferenz. Und wer jetzt denkt, puh, Comedy am Samstagmorgen, schwierig, dem sei dann doch mal der Besuch eines Programms des Thurgauer Comedians empfohlen. Der 1991 aus der Dominikanischen Republik in die Schweiz gekommene Kiko hat nicht nur eine fesselnde Bühnenpräsenz, sondern auch das grosse Talent bittere Wahrheiten mit einer nonchalanten Leichtigkeit auszusprechen, die lange nachwirkt.
Die Bedeutung von Begegnungen für Veränderungen
Frank Cabrera Hernandez, so Kikos richtiger Name, sprach also wirklich sehr lustig über sehr traurige Dinge seines selbst erlebten Alltagsrassismus nach seiner Ankunft im thurgauischen Hefenhofen. Von Blackfacing in der Schultheatergruppe, von Menschen, die ihn für dumm halten, weil er nicht weiss ist oder vom „Wer hat Angst vorm Schwarzen-Mann-Spiel“ in seinen ersten Schultagen in der neuen Heimat. Hatte man bis dato keine Ahnung davon, was gesellschaftliche Exklusion bedeutete, Kiko machte es mit seinem Stand-up ziemlich klar.
Drittens: Wenn man etwas wirklich verstehen will, dann helfen vor allem zwei Dinge: Begegnung mit Betroffenen und Selbsterfahrungen. Auch diese Gelegenheit bot die Konferenz. In vier verschiedenen Workshops konnten sich die Besucher:innen in die Situation von blinden, tauben und kognitiv beeinträchtigten Menschen hineinversetzen. Mara Flückiger und Cyril Haudenschild, vom Verein „movo - Verein für darstellende Künste mit gehörlosen und hörenden Menschen“ eröffneten den Blick auf Kulturprogramm und Kulturschaffen aus ihrer Perspektive.
Neues Publikum, neue Chancen für Kultur
David Herzmann, Kunstvermittler, Vorstand des Vereins „Kultur für alle“, blind und auf einen Rollstuhl angewiesen, liess die Besucher:innen mit Hilfe von Augenklappen selbst ausprobieren, was es wirklich heisst, blind zu sein, wie man Kunst anders vermitteln muss, wenn man ein blindes Publikum vor sich hat und welche Chancen für die Kultur darin auch liegen.
Damian Bright, ebenfalls aus dem Vorstand des Vereins „Kultur für alle“ und kognitiv beeinträchtigt, erarbeitet mit seinem Workshop einen Text in leichter Sprache. Die Performerin Micha Stuhlmann, die ebenso wie Damian Bright kurzfristig für erkrankte Referat:innen eingesprungen war, führte vor, wie viel Verständigung auch ohne Sprache möglich ist.
Bis hierher lief die Kulturkonferenz nahezu vorbildlich nach dem Lehrbuch des Aktivismus. Humor hatte die Gehirne und Herzen der Besucher:innen geöffnet und sensibilisiert, Begegnung und Dialog mit Betroffenen und eigene Erlebnisse vertieften die Bereitschaft zur Veränderung. Als logischer vierter Schritt hätte nun folgen müssen, aus dem Erlebten auch konkrete Schlüsse zu ziehen, wie man die aktuelle Situation wirklich verbessern könnte. Aber hier verliess die Konferenz den zuvor eingeschlagenen Weg.
Mehr Neugier gefordert
Die abschliessende Podiumsdiskussion mit den Workshop-Leiter:innen blieb bei bereits bekannten Beschreibungen des Status Quo stehen. Inklusion stärker auch in Kulturförderprozesse einzubeziehen, forderte etwa Damian Bright, er wolle in allen Bereichen der Kultur als selbstverständlicher Teil dazugehören. Cyril Haudenschild sprach die Barrieren im Zugang auf und vor Bühnen für körperlich oder kognitiv beeinträchtigte Menschen an.
Gerichtet an Kulturförder:innen und Kulturveranstalter:innen sagte er: „Wenn ihr uns wirklich für euch gewinnen wollt, dann müsst ihr stärker auf unsere Bedürfnisse eingehen. Eure Neugier auf uns muss grösser sein!“ David Herzmann appellierte daran, mehr füreinander und miteinander zu schaffen. Dann ergebe sich so etwas wie Augenhöhe in der Regel automatisch.
Und jetzt?
So richtig das alles war, so ratlos konnte man als Besucher:in mit diesen Allgemeinplätzen alleine auf seinem Stuhl sitzen. Um wirklich eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, hätte sich in diesem Moment ein zweiter Teil der Konferenz anschliessen müssen - die Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen auf verschiedenen Ebenen. Vom Individuum bis zur Institution. So hingen nun viele Wünsche im Raum, von denen aber weitgehend unklar blieb, wie man sie denn erfüllen könnte und welche Akteur:innen dafür zusammenspielen müssten.
Was zudem zu kurz kam, war eine Perspektive auf soziale und ethnische Hürden in der kulturellen Teilhabe. Der Comedian Kiko hatte das Feld zwar geöffnet und in der anschliessenden Diskussion mit Stefan Wagner, dem Beauftragten der Thurgauer Kulturstiftung, wurden die Bedeutung von Bildung und finanziellen Möglichkeiten für kulturelle Teilhabe zwar gestreift, aber eben nur gestreift.
„Kultur muss stärker in den Schulen verankert werden“, forderte Kiko etwa. Nur so könne man Hemmschwellen abbauen und Integration fördern. Nun existieren solche Programme wie die Kulturagenten beispielsweise bereits, aber offenbar werden sie noch nicht flächendeckend genug eingesetzt, um den Zugang zu Kultur wirklich allen zu ermöglichen. Dies intensiver zu diskutieren und zu hinterfragen, wäre eine Chance für die Konferenz gewesen.
Eine Perspektive fehlte komplett
Zudem wäre es ja schon auch noch interessant gewesen, bei einer Konferenz über kulturelle Teilhabe, auch über all jene Bevölkerungsgruppen zu sprechen, die weder körperlich noch kognitiv beeinträchtigt sind und trotzdem keinen Zugang zu Kulturangeboten finden.
Oder auch eine Reflexion der versammelten Kulturszene darüber, wie man veränderte Bedürfnisse in einem vielfältigen potenziellen Publikum auch in der eigenen Ausrichtung berücksichtigen könnte. Und welche Rolle Zuschauer:innen und Zuhörer:innen ganz grundsätzlich im Kulturentstehungs- und Kulturförderprozess spielen sollen und können. Aber das wäre vielleicht auch wieder Stoff für eine ganz eigene Konferenz.
Am Ende trübte ein Gedanke, die eigentlich gelungene Veranstaltung. Das Gefühl, dass da jetzt zwar etwas geöffnet wurde, aber zu wenig daraus gemacht wurde. Das Problem: Wenn man etwas öffnet und stehen lässt, dann wird es auch schnell schal. Oder anders gesagt: Die Chance auf gesellschaftliche Veränderung droht zu verpuffen, wenn einem noch so klug geschaffenen Bewusstsein keine weiteren Schritte folgen.
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