von Brigitte Elsner-Heller, 29.09.2020
«Alle machen, was alle machen»
Auftakt der Spielzeit 2020/2021 in Konstanz mit Falladas „Jeder stirbt für sich allein“. Auftakt auch für die neue Intendantin Karin Becker, die Konstanz unter Corona-Bedingungen erobern muss.
Wenn nach vierzehn Jahren der Chefsessel eines Theaters neu besetzt ist und die erste Spielzeit ansteht, ist dies mehr als eine Randnotiz. Und dem oder der „Neuen“ wird bewusst sein, dass mit dem Spielplan, mehr noch mit den ersten Inszenierungen, die Visitenkarte abgelegt wird. Hatte sich am Theater Konstanz Dagmar Schlingmann 2001 mit allen drei Teilen der Orestie von Aischylos an einem Tag vorgestellt und Theater damit auch intellektuell positioniert, stieg Christoph Nix 2004 an zwei Spielstätten mit Brecht ein. Ein Zeichen im Rückblick auch dies: Die kritische, leicht nach links geneigte Haltung war immer wieder anzutreffen, mal ohne, mal mit einer dem Utopischen zuneigenden Sozialromantik.
Und nun der Auftakt für Karin Becker. Zunächst im Stadttheater mit Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“. Und – mit Corona (dieses Teufelswort!). Wer hätte sich so einen Anfang gewünscht? Und was auch immer zu der Inszenierung von Schirin Khodadadian zu sagen ist: Das Eine oder Andere wäre unter Umständen modifiziert auf die Bühne gekommen, wenn die strengen Hygienemassnahmen nicht Abstand eingefordert hätten. Die leicht statische Haltung ist wohl unausweichlich, aber überraschenderweise tut das dem Stoff sogar recht gut. Ist sie doch Garant für eine ruhige, konzentrierte Handlungsführung, die jedem Wort, das gesprochen wird, Bedeutung verleiht.
Video: Trailer zum Stück
Widerstand mit bescheidenen Mitteln
Es ist eine „kleine“, auf einem realen Fall basierende Geschichte, die Hans Fallada – zunächst widerwillig – in einem Schaffensrausch innerhalb von drei Wochen auf 866 Manuskriptseiten ausgebreitet hat. Oder besser: die Geschichte „kleiner Leute“, die sich mit scheinbar bescheidenen Mitteln der menschenverachtenden Maschinerie des nationalsozialistischen Systems entgegen stellen. Und es sind ebenfalls keine besonderen Menschen, die im Namen des Systems morden, die denunzieren oder sich wegducken vor einem Machtapparat, dessen Wurzeln auch im Nicht-Handeln liegen. Das Ehepaar Quangel, das durch den kriegsbedingten Tod des Sohnes anfängt, regimekritische Postkarten auszulegen, bezahlt seinen Mut mit dem Tod. Mitläufer dagegen werden wohl weiter mitlaufen.
Die Banalität des Bösen
Ist dies die Visitenkarte, die Karin Becker auslegen wollte? Die „Banalität des Bösen“, wie Hannah Arendt formulierte, in den Fokus zu stellen? Mit dem Spielzeitmotto „Einmal Welt, bitte“, hat sie weit (wenn auch wenig konkret) ausgeholt, um dann anstelle des Schwerts das Seziermesser zu zücken und kleinteilig unter dem Mikroskop zu analysieren. Uns alle, unser System, unsere „Normalität“, die sich jeden Tag ein wenig verschieben lässt, wenn wir unaufmerksam werden. Die Gefährdung der Demokratie ist das Thema dieser Zeit, es ist wohl auch Karin Beckers Thema.
Zurück zur Auftakt-Premiere „Jeder stirbt für sich allein“. „Alle machen, was alle machen“, ist vielleicht der gewichtigste Satz des Abends, gesprochen von Anna Quangel, deren Sohn „für Führer, Volk und Vaterland gefallen“ ist. Dass es dabei auch um uns geht, um das Publikum, das wegen Corona im Theater auf einmal statt in der Economy- in der Business-Class zu sitzen kommt (drei Viertel der Sitze wurde abmontiert), wird mit dem ersten Bild klargestellt: Die Bühne ist ausgestaltet wie der Zuschauerraum, sie spiegelt ihn bis hin zur hölzernen Wandverkleidung und den schweren roten Vorhängen, die Fenster zum Verschwinden bringen und das Innen vom Außen effektiv trennen. Der Innenraum ist nun in der Anschauung eins, als wäre ein Entrinnen weder vom Dargestellten noch von der Realität möglich. Auch wenn diese Vorgabe ein zu deutliches Signal setzt, geht davon doch eine gewisse Irritation aus (Bühne: Carolin Mittler).
Karin Becker plant nicht den Umsturz
Ein weiteres Zeichen setzt die Besetzung, denn sie zeigt, dass Karin Becker einen erfahrenen Kern des Ensembles übernommen hat. Sebastian Haase etwa steht als Otto Quangel auf der Bühne, Katrin Huke ist seine Frau Anna; Ingo Biermann ist Kommissar Escherich, deren grosser Widersacher, der doch selbst nur ein kleiner Gefolgsmann des Systems ist, der unter Druck gerät. Ebenfalls auf dieser Bühne bekannt ist Jana Alexia Rödiger, die hier vor allem als Postbotin Eva Kluge in Erscheinung tritt. Ihre Konstanzer Premiere gaben dagegen Burkhard Wolf als selbstsüchtiger Nichtsnutz Enno Kluge, der zum Bauernopfer wird, sowie Pauline Werner und Miguel Jachmann, die in Konstanz ihr erstes Engagement angetreten und sich auch gut eingeführt haben.
Ein stummer Schrei
Die Bewegungen auf der mit Theatersitzen möblierten Bühne erinnern an das Sortieren eines Setzkastens. Das bietet – unter Einhaltung der Corona-Auflagen – jedoch die Möglichkeit, Konstellationen immer wieder neu auszuloten, und passt auch zu einer sprachlichen Finesse, die in der Theaterfassung des Romans von Luk Perceval und Christina Bellingen vorherrscht: dem Wechsel zwischen Dialogen und erzählten Passagen. Diese werden oft von den Figuren selbst mit gesprochen, ohne dass es dabei zu einer Veränderung ihres Auftretens käme. Ein Perspektivwechsel, der nicht extra thematisiert und dessen Aussage dadurch in die Nähe objektiver Tatbestände gerückt wird. Beeindruckend etwa, wie Anna Quangel die Todesnachricht ihres Sohnes erhält, ihr Mann Otto (Sebastian Haase) leise von dem Schrei berichtet, den seine Frau ausstösst, wobei Kathrin Huke als Anna ganz still bleibt und man nur das Geräusch hört, wie sie den Brief zerreisst, der ihr Leben grundsätzlich verändert.
Dann ein grotesker Totentanz
Eine gefährliche Ruhe kennzeichnet die Szenen, in denen die einfachen Leute ihr Leben meistern oder auch an den Umständen zugrunde gehen wie die Jüdin oder die Kommunistin (Pauline Werner als Trudel Hergesell), die beide Selbstmord begehen. Als wollte die Regie den Opfern eine stille Würde zukommen lassen. Anders dagegen die Seite der Täter. Sie wird schonungslos vorgeführt oder sogar der Lächerlichkeit preisgegeben – eine Haltung, die zwar Tempo in die Inszenierung bringt, aber auch ein wenig Magengrimmen. Ingo Biermann, zunächst als Kommissar ernst zu nehmen, gerät ein wenig in den Clown-Modus, obwohl er gerade den schuldlosen Nichtsnutz Enno als Täter präsentiert und dann in den Selbstmord getrieben hat. Das Spiel der Schergen wird teilweise zum grotesken Totentanz, wobei eine Plastikfolie als überdimensionales Leichentuch dient. Geradezu munter wirkt Miguel Jachmann als Denunziant Barkhausen – als der Typ Mensch, der dank schneller Auffassungsgabe und fehlender Skrupel immer überleben wird.
Summen, murmeln
Eher wie reiner Fugenkitt wirken die Intermezzi mit Instrumenten, wohingegen der chorische Gesang, summend oder murmelnd vorgetragen, als Widerhall innerer Emotionen manche Szenen tröstend einhüllt und Wahrhaftigkeit sowie Menschlichkeit suggeriert (Musikalische Leitung: Johannes Mittl). Bleibt noch, neben der schönen Ensembleleistung, Sebastian Haase als Otto Quangel herauszustellen. Wie er mit grosser Ruhe und kleinsten Gesten die Gefühlswelt dieses zurückgezogenen Menschen sichtbar macht, ist erfüllende Bühnenkunst.
Weitere Aufführungen
29./30. September
1./2./3./4./7./9./10./11./13. und 14. Oktober
Alle Termine im Überblick und einen Online-Ticketkauf gibt es auf der Internetseite des Theaters.
Eine Besprechung der zweiten Auftaktpremiere «Generation Extinction», könnt ihr hier nachlesen.
Ein Porträt der neuen Intendantin Karin Becker findet ihr hier: «Die Teamspielerin»
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