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von Brigitte Elsner-Heller, 01.04.2019

Auf der Suche nach dem Ich

Auf der Suche nach dem Ich
Die Gruppe hält, hält aber auch fest. | © Brigitte Elsner-Heller

Das junge theater basel (jtb) war mit seiner Tanz-Produktion „what we are looking for“ beim Tanzfestival „tanz: now“ in Steckborn zu Gast. Begeisterung war da unbedingt angesagt.

Der Auftakt hätte markanter kaum ausfallen können: Die hämmernden, dunklen Beats des Songs En Route Pour La Joie“ – unterwegs, um Freude zu finden – der französischen Rockband Noir Désir begleitet den Auftritt der sieben jungen Tänzerinnen und Tänzer des jungen theater basel (jtb), die sich auf der kleinen Bühne des Phönix Theaters in Steckborn so bewegen, als wären sie hier schon immer unterwegs. Kraftvoll, selbstbewusst, aggressiv, aber auch verstört und verletzlich werden sie sich zeigen in der nun folgenden Stunde ihrer Tanz-Performance „what we are looking for“, die bereits vor einem Jahr in Basel Premiere hatte und die nun im Rahmen des Festivals „tanz: now“ nach Steckborn gekommen ist. An Frische hat die Produktion auf keinen Fall verloren, an Aktualität schon gar nicht.

Was ist cool? Was lediglich komisch?

Denn es geht um die Suche nach Identität, die während des Heranwachsens verstärkt aufgeworfen wird und immer wieder an einen Punkt gerät, wo sich das Gefühl eigener Bedeutungslosigkeit mit Allmachtsphantasien überkreuzt. Dass die Gruppe dabei den wesentliche Resonanzraum bildet, ist hinlänglich bekannt. Doch wer gehört zur Gruppe, wer wird ausgeschlossen und warum? Was ist konform, was verschwindet in Konformität? Oder um es mit zwei Begriffen zu fassen, die während der Aufführung fallen: Was ist cool und was lediglich komisch? „En Route Pour La Joie“ gibt sehr passend den Ton vor, in dem diese Fragen verhandelt werden. Denn zu den martialisch die Emotionen aufpeitschenden Beats gesellt sich hier ja auch die französische Sprache, die für sensible Ausformulierungen steht.

Die fünf Tänzerinnen und zwei Tänzer treten einzeln zwischen den massiven Bahnen des nach oben geschwungenen Bühnenhintergrunds hervor, kraftvoll und bodenständig dabei ihre Bewegungen – sie sind das, was wir alle sind oder wenigstens einmal gewesen sein dürften: Menschen auf dem Weg. Jeans und Jeanshemden lassen sie irgendwie zu Prototypen werden, die uns alle angehen (Kostüme: Ursula Leuenberger), die Konformität üben, ohne das zu beabsichtigen. Ohne die es aber auch nicht immer geht. Von „gesellschaftlichen Zwängen“ wird erst später gesprochen, wenn Beruf und Familie dazu gekommen sind.

Zoff ist angesagt. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Was die Choreografie erzählt

„what we are looking for“ folgt vordergründig einer Art Nummerndramaturgie, zumindest erscheinen Nummerierungen zu den aufeinander folgenden Bildern als pixelige Kunstwerke, die sich wunderbar zu den ebenfalls verpixelten Projektionen von Figuren gesellen, die hin und wieder auf dem Bühnenhintergrund erscheinen und für eine weitere, träumerische Realitätsebene stehen mögen (Visuals: Martin Fuchs, Philip Whitfield). Das Thema und damit die „Handlung“ ziehen sich jedoch in Variationen durch: Was wollen wir (überhaupt wollen)? Was können wir? Und wo ist dabei die Grenze zum jeweils anderen?

Ungeachtet ihrer jeweiligen Rollenkonstellationen zeigen sich die Tänzerinnen und Tänzer grundsätzlich als starke Persönlichkeiten, die neben der tänzerischen Darstellung auch eine eigene Mimik zeigen dürfen. Und so unterschiedlich ihr Erscheinungsbild jeweils auch sein mag: Sie gehören allein schon durch das Vokabular ihrer Bewegungen zusammen, das aus dem Alltag entnommen ist und mit den Posen des klassischen Balletts – bis auf wenige Zitate – nichts mehr gemeinsam hat (Choreografie: Ives Thuwis-De Leeuw; Dramaturgie: Uwe Heinrich). Die Gruppe windet sich zunächst im Knäuel, ist sich nahe, nimmt aber dabei auch demjenigen, der sich in der Mitte befindet, Luft und Bewegungsfreiheit. Die Gegenbewegung nach außen verschafft sofort einem den Raum, den „Ton“ anzugeben und den anderen ihre Freiräume zuzuweisen oder zu verweigern. In die geometrischen Muster der klassischen Dramaturgie schleichen sich Muster des Ausweichens ein, wobei die Aktionen immer noch den rhythmischen Vorgaben der ausgesuchten, überwiegend zeitgenössischen populären Musik folgen.

Video: Trailer zu "what we are looking for"

Zeichen von Einsamkeit

Nach und nach erhalten alle Tänzerinnen und Tänzer ihr „Solo“, können sich sich nicht nur in ihrer jeweiligen Rollenzuweisung, sondern auch in ihrer Kunst dem Publikum vorstellen. In kurzen „Unterbrechungen“ werden dabei Texte der Selbstvergewisserung gesprochen – nicht etwa zum Publikum oder zur Gruppe, sondern in ein Aufnahmegerät, was die Geschlossenheit der Darbietung aufrecht erhält, zudem aber auch als Zeichen von Einsamkeit und/oder Selbstbespiegelung dient.

Das Spektrum der Themen wird im Verlauf der Aufführung immer breiter aufgefächert, wobei sich Verhalten und inneres Erleben teils durchdringen, dann aber auch voneinander abgrenzen. Und wo eben noch die Gruppe eine Tänzerin getragen hat, wird sie auch schon übergriffig. Paare finden sich und drängen sich körperlich zurück, Mobbing wird durch ein hinterhältiges „Entschuldigung!“ in seiner Bedeutung verbogen, während die Gruppe es aus dem Abstand heraus tuschelnd und lächelnd geschehen lässt.

Wer ist dabei, wer ist draussen?
Wer ist dabei, wer ist draussen? Bild: Brigitte Elsner-Heller

Es ist doch vieles, was zählt

Während die jungen Tänzerinnen und Tänzer – der verbreiteten Terminologie nach „Laien“ in einem professionellen Umfeld – springen, fallen, sich auf dem Boden rollen oder in die Höhe streben, kommt man nicht umhin, auch ihren akrobatischen Fähigkeiten unumwunden Respekt zu zollen. Selbstzweck ist das nie, immer wird Bedeutung damit transportiert. Schön zu sehen ist auch, dass die Vermischung der Stile und Mittel den Blick zurück ohne Zorn ermöglicht. So werden einzelne Posen des klassischen Balletts zitiert, als wolle sich der oder die Einzelne auch fragen, was aus dem kulturellen (und individuellen?) Gedächtnis nutzbar zu machen wäre. Berührend zudem die Zurückweisung einer schwulen Liebe, deren Einsamkeit nicht nur durch räumliche Distanz auf der Bühne markiert, sondern durch den Countertenor-Gesang eines Dowland-Liedes emotional umfangen wird.

Eine Bühnenarbeit, die sich nicht vor kritischen Aspekten drückt und gerade dadurch menschlich, sogar liebevoll ist. Der Dank des begeisterten Publikums ging nicht zuletzt an sieben junge Menschen, die dieses Projekt „what we are looking for“ mit entwickelt und nahbar gemacht haben: Cilio Minella, Tim Brügger, Alejandra Jenni, Alina Immoos, Lou Haltinner, Maru Rudin und Rabea Lüthi.

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