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von Bettina Schnerr, 19.11.2020

Corona & ich

Corona & ich
Literatur braucht mehr als nur den Leser: Der Schriftsteller Usama Al Shahmani über seine Erfahrungen aus dem Leben mit dem Coronavirus.(November 2020) | © Beni Blaser

Seit 9 Monaten schränkt ein Virus das Kulturleben massiv ein. Was macht das mit den KünstlerInnen? Die drei Thurgauer Kulturschaffenden Rahel Kraft, Oliver Kühn und Usama Al Shahmani erzählen ihre Geschichte. Lesedauer: ca. 10 Minuten

Die letzten Wochen schienen von aussen besehen halbwegs passabel abzulaufen: Mit Hilfe von Abstandsregeln, Zulassungskontrollen und viel Desinfektionsmittel öffneten nach dem Lockdown Museen und Bibliotheken wieder und viele Veranstalter vom Kino bis zur Musikbar nahmen ihren Betrieb wieder auf.

Das sah nach Normalität aus, doch hatten die Lockerungen auch eine viel existenziellere Funktion: Ein Wirtschaftsbereich, der explizit auf Publikum und Mobilität angewiesen ist, erwirtschaftete seit Wochen endlich wieder Geld.

Entschädigungen waren mal mehr, mal weniger erfolgreich

Die Zeit des Lockdowns war geprägt von teils existenzgefährdenden finanziellen Einbussen und der Beschäftigung damit, Entschädigungen bei verschiedenen Anlaufstellen zu organisieren. Teils mehr, teils weniger erfolgreich.

Wir haben uns mit Kunstschaffenden aus drei Sparten unterhalten, wie sich ihre Situation darstellt und wie es weitergehen könnte. Dabei zeigt sich, dass KünstlerInnen unterschiedlich stark betroffen sind und eine allgemeingültige Antwort kaum zu finden ist.

„Wir wollen beweglich bleiben und nutzen die Zeit, um die bisherigen Formen zu überdenken.“

Oliver Kühn, Regisseur, Autor und Schauspieler (Bild: Archiv)

Während viele Theater von akuten Schliessungen betroffen waren, hatte das Sirnacher  Theater Jetzt unter Leitung von Oliver Kühn das, was man wohl Glück im Unglück nennt: „Der Lockdown im März traf uns nicht so hart,“ erinnert sich Kühn. „Es war für uns akzeptabel, weil wir in dieser Zeit neue Stücke vorbereiteten.“ Premiere und Aufführungen von Doppelmord.Herrmann waren für den September geplant und das Stück Trainingslager läuft ab November.

„Einen gewissen Vorteil haben wir als freies Theater,“ findet der St. Galler. Als solches hat er keine festen Spielstätten und verfüge über eine grössere Flexibilität. „Wir nutzen seit Anfang immer wieder theater-unübliche Räume, die eine andere Sitzplatz-Situation als »Stuhl an Stuhl« anboten.“

Damit fallen für das Theater Jetzt auch die Fixkosten nicht so hoch aus wie bei anderen Theatern: Es gibt ein Lager für Kostüme und Kulissen und es sind Probenräume angemietet. Oliver Kühn verzichtete auf das Beantragen von Entschädigungen und überbrückte die Zeit mit Rückstellungen. „Aber ewig kann das natürlich nicht gehen,“ weiss er.

Private Theatersponsoren für die Fixkosten

Seit einiger Zeit bietet Kühn, unabhängig von Corona, die Möglichkeit an, das Theater als „Bienfaiteurs du théâtre“ finanziell zu unterstützen. Zumindest einen Teil des Budgets kann er aus den unterschiedlich gestaffelten Spenden bestreiten, denn ohne sie wäre der Theater-Betrieb unmöglich. Das persönliche Einkommen fängt das Ensemble unterschiedlich auf: Während Oliver Kühn hauptberuflich als Darsteller, Autor und Spielleiter tätig ist, arbeiten viele andere wegen der saisonalen Fluktuation parallel in Teilzeitjobs.

Die September-Aufführungen, die dann regulär aufgenommen werden konnten, verliefen für das Theater erfreulich gut: „Wir haben einen Nerv getroffen,“ erzählt Kühn. „Wir empfahlen grundsätzlich Masken und das war für die Leute in Ordnung, weil sie das Stück sehen wollten.“

Vor allem wegen des Alters seines Publikums achtet er darauf. „Wenn man nicht gerade konkret mit Jugendlichen arbeitet und damit die Familien anzieht, kommen eher Menschen über 50 ins Theater,“ beobachtet er. „Auf so etwas muss man mit entsprechenden Vorsichtsmassnahmen eben schauen.“

Selektiveres Publikum, kreatives Theater

Das Interesse beim Publikum sei nach wie vor da, obgleich es wahrscheinlich selektiver sei als zuvor: „Wenn die Inhalte stimmen, hat man eher Publikum.“ Die Zeit mit Corona spiegele viele gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Fragen oder habe bestehende Fragen verschärft. „Wir versuchen mit dem Theater, einen kreativen Gewinn daraus zu ziehen,“ sagt Kühn. „Wir wollen beweglich bleiben und nutzen die Zeit, um die bisherigen Formen zu überdenken. Können wir aktiv etwas Neues entwickeln?“

Das Theater Jetzt hat sich schon länger darauf spezialisiert, seine Bühnen an den verschiedensten Orten aufstellen zu können und dieses Konzept möchte Kühn weiterentwickeln. Und sämtlichen Variationen gegenüber ist er ohnehin aufgeschlossen: „Wir haben einmal eine WhatsApp-Führung gemacht und das Publikum mit Hilfe von Audiofiles durch einen Parcours geführt.“

Die Idee, gemeinsam mit dem Publikum unterwegs zu sein, nennt er „Theatrale Führungen“ und bisherige Projekte kamen stets sehr gut an. „So etwas kann ich mir sehr gut als regelmässigeres Angebot vorstellen.“

„Aus Begegnungen und Gesprächen schöpfe ich Energie für mein Schaffen und virtuelle Begegnungen können das nicht ersetzen.“

Usama Al Shahmani, Schriftsteller (Bild: Beni Blaser)

Man könnte klischeehaft meinen, ein Schriftsteller sei das Allein sein gewohnt. Doch auch für diesen Beruf krempelt die Zeit alles Gewohnte auf Links, wie Usama Al Shahmani schildert: „Ich bin als Kind einer Kriegsgeneration den Mangel gewohnt und erlebe trotzdem etwas fundamental anderes. Nämlich einen Mangel an Information und damit lässt sich so eine Situation ganz schlecht einordnen.“

Die Krise traf ihn auf vielen Ebenen: „Übernimmt man als Elternteil plötzlich die Rolle der Lehrer für seine Kinder, kann es nur Verlierer geben,“ ist seine Erfahrung. „Selbst eine gewisse Kompetenz in einzelnen Fächern trägt den Rollenwechsel nicht über eine längere Zeit. Eine Familie hat eine ganz andere Funktion als eine Schule.“

Auch seiner Familie im Irak konnte er keine Hilfe bieten, das gehe über materielle wie psychische Kapazitäten hinaus. „Solche Herausforderungen schränken den produktiven Raum enorm ein,“ beschreibt Al Shahmani die vergangenen Herausforderungen.

Reinhören: Eine Lesung von Usama Al Shahmani

thurgaukultur.ch · #dasliterarischesolo: Eine Lesung Von Usama Al Shahmani

Dringend benötigt: Ein Raum zum Schreiben

Das Schreiben selber ging dennoch vergleichsweise gut von der Hand. Zwar wurde während des Lockdowns das Gebäude geschlossen, in dem sein Schreibzimmer untergebracht ist, doch Christof Stillhard, ein Freund und gleichzeitig Kulturbeauftragter der Stadt Frauenfeld, stellte ihm seine Werkstatt zur Verfügung.

„Denn zum Schreiben brauche ich einfach Platz. Zu Hause erledige ich nur Organisatorisches,“ meint er. Die Wochen überbrückte er nicht nur mit dem Schlusslektorat seines aktuellen Buchs, sondern auch mit einem neuen Theaterstück: „Ich würde mich freuen, wenn es demnächst klappt, denn ich bin mit Interessenten schon im Gespräch.“

„Für ein neues Buch muss ein Raum geschaffen werden. Jeder Autor, jede Autorin will wissen: Wie kommt es an?“

Usama Al Shahmani, Autor

Eben jener aktuelle Buchtitel ist „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ und Al Shahmani dankt dem Zufall: Das Buch erschien im August und damit erst nach dem Lockdown. „Wäre es im Frühjahrsprogramm erschienen, wäre das für mich bedrückend gewesen,“ findet der Autor. „Für ein neues Buch muss ein Raum geschaffen werden. Jeder Autor, jede Autorin will wissen: Wie kommt es an? Das muss man zeigen, es muss erlebt werden. Alles andere fühlt sich wie verstümmelt an.“

Das Zögern der Veranstalter

Ab März fielen für den Frauenfelder bis in den Juli hinein mehr als 20 Lesungen aus. Dazu kamen Veranstaltungen anderer Art sowie eine Gastdozentur. Für AutorInnen sind solche Ausfälle kritisch, denn sie leben kaum vom eigentlichen Buchverkauf, sondern von Auftritten wie Autogrammstunden, Lesungen und Gesprächsrunden.

Bei Al Shahmani konnten die Ausgleichkasse und das Kulturamt des Kantons Thurgaus die Ausfälle zum grössten Teil auffangen. „Das Verfahren ist, zumindest was die bisher angefallenen Ausfälle angeht, abgeschlossen,“ erzählt er. „Doch einen wichtigen Punkt kann kein Fonds auffangen: Die Veranstalter zögern mit neuen Buchungen und was nicht geplant ist, kann ein Künstler auch nicht entschädigen lassen.“

Video: Usama Al Shahmani im SRF Literaturclub

Ohne Gegenüber verliert ein Text an Lebendigkeit

Usama Al Shahmani spürt die Vorsicht der Veranstalter deutlich: „Planungen sind schwer, es wird viel abgewartet.“ Sein aktueller Titel wird in den Medien viel und sehr gut besprochen, ging nur vier Wochen nach Erscheinen in die zweite Auflage. Doch sein Terminkalender ist nicht so voll wie zuvor.

Genau das fehlt ihm: „Ich geniesse die Fragen und Diskussionen. Ich brauche den Kontakt mit dem Publikum,“ betont Al Shahmani. „Aus Begegnungen und Gesprächen schöpfe ich Energie für mein Schaffen und virtuelle Begegnungen können das nicht ersetzen.“ Ihm ist das Gespür für den Zuhörer wichtig und ein Text verliert für ihn an Lebendigkeit, wenn ihm niemand gegenüber sitzt.

Die Kultur lebt nicht von einem Produkt

Usama Al Shamani ist hoffnungsvoll, obwohl sich die nahe Zukunft nicht planen lässt. Das gilt zum Beispiel auch für sein nächstes Buchprojekt. Dafür wären einige Reisen notwendig, um vor Ort Gespräche zu führen und Archive einsehen zu können. Doch ob die Reisen machbar sind und wann, lässt sich nicht einschätzen.

Derweil treiben ihn Grundsatzfragen um, die die Krise aufwirft: Ist Kultur notwendig oder kann man darauf verzichten? Was fehlt uns vom Leben, wenn wir alles fallen lassen und nicht einmal wissen, für wie lange?

„Mit Covid in der Kultur Geld zu verdienen, ist sicher schwierig. Die Kultur lebt schliesslich nicht von einem Produkt, sondern von einem Kontakt zwischen Künstler und Publikum,“ ist seine Einschätzung. Sie lebt von Diskurs und das kann ohne Kontakt einfach nicht funktionieren.“

„Dieses Unklare belastet meine Arbeit.“

Rahel Kraft, Klangkünstlerin (Bild: Archiv)

Musikerin, Performance-und Klang-Künstlerin — Rahel Kraft verbindet ihre Kunst vollständig mit Musik und Sound und ist mit traditionellen Zuschreibungen aus diesem Kunstbereich doch nicht zu packen. Für die andauernde Corona-Zeit bedeutet es, dass Kraft durch viele Raster fällt und damit doch sehr viel typischer für die Kulturszene ist als es auf Anhieb aussieht.

Ein vergleichsweise regelmässiges Künstlereinkommen, das man berechnen und auf dessen Basis man Entschädigungen anfragen könnte, gibt es bei Rahel Kraft nämlich nicht.

Krafts Problem: Klangkunst passt in kein Schema

Sie arbeitet seit mehreren Jahren zum Einen in Teilzeitjobs und zum Anderen stark projektbezogen: „In den letzten Jahren gestaltete ich viele Installationen. Die bleiben eine Weile erhalten und Eintritte spielen keine Rolle,“ beschreibt Kraft ein Beispiel. „Ich trete als Projektleiterin auf und finanziere die Projekte vorab.“

Auftritte und Performances wiederum werden direkt entlohnt, wegen des Aufwands aber seltener gebucht. „Je nach Werk funktioniert die Honorierung anders. Den einen, allgemeingültigen Weg gibt es einfach nicht.“

Wechselnde Engagements statt stabiler Raster

Im Bereich Klangkunst, in dem Kraft arbeitet, ist diese berufliche Taktik allerdings typisch: „Mit dieser Kunst lässt sich selten der Lebensunterhalt verdienen, die KollegInnen haben praktisch alle Brotjobs parallel zu ihrer Kunst.“

Auf Grund der üblichen unregelmässigen Buchungen erlebte die Thurgauerin in den letzten Monaten nur wenige Ausfälle und damit fehlte eine Basis, um Entschädigungen geltend machen zu können. „Das Einkommen auf Künstlerseite war so gering, dass ich nichts melden konnte,“ sagt Kraft.

Finanzielle Hilfe bekam Rahel Kraft von anderer Seite. „Der Levedo-Stiftung ist bewusst, dass Leute wie ich durch die Maschen der klassischen Bewertung bei vielen Ausfallentschädigungen fallen,“ sagt sie. „Die Stiftung hatte ihr Angebot sehr schnell auf Sonart publiziert und Unterstützung speziell für Künstler meiner Sparte angeboten.“

Eintauchen in einen Text. Oder: «Paradoxical Creatures» by Rahel Kraft. Bild: Klaus Pichler

Blick in eine unwägbare Zukunft

Aber wie kann die Musikerin künftige Herausforderungen abfedern? „Derzeit erlebe ich eine grosse Unsicherheit, ob ich mich um neue Buchungen kümmern soll,“ erzählt Rahel Kraft.

Für die Perfomance zum Buch „Paradoxical Creatures“ kümmert sie sich selbst um neue Engagements, doch zum ersten Mal ist nicht klar, ob kurz- und mittelfristig Auftritte realistisch sind. „Weder ich noch die Veranstalter wissen, wie lange die Phase andauert und umso mehr zehrt die Frage, ob man zuwarten kann oder eben nicht. Dieses Unklare belastet meine Arbeit.“

Das betrifft auch das Problem, dass Rahel Krafts Arbeit - typisch für diese Kunststparte - international ausgelegt ist und das Reisen für Auftritte oder Arbeitsaufenthalte derzeit praktisch nicht möglich ist.

Wenn internationale Kooperation nur über Videocalls möglich sind

Mit der Japanerin Tomoko Hojo allerdings konnte Kraft eine internationale Zusammenarbeit erfolgreich umgestalten. „Mit Hojo arbeite ich schon lange zusammen und wir sind es gewohnt, viel gemeinsam online an einem Projekt zu arbeiten.“ erzählt sie. „In der Zeit zwischen Auftritten tauschen wir uns über Cloud-Dateien und Videocalls aus. Das hat es uns ermöglicht, unsere Performance My Place, my Sound in den letzten Monaten weiter zu entwickeln.“

Es war klar, dass weitere Auftritte damit so schnell nicht wieder möglich sind. Doch in diesem Soundprojekt steckt so viel Arbeit, dass die beiden es nicht auf unbestimmte Zeit ruhen lassen wollten. Sie schrieben es zu einem Hörstück um und schickten es verschiedenen Sendern zu  — mit Erfolg: Der Radiosender DLF Kultur strahlt das Stück Anfang 2021 aus.

Video: Performance «My Place, my Sound»

MY PLACE MY SOUND - Kyoto 2019 from Rahel Kraft on Vimeo.

Sich die Spontaneität der letzten Wochen bewahren

Insgesamt steht für Rahel Kraft eines fest: Die Krise hat viel Reflexion ausgelöst. Damit meint sie einerseits ihr eigenes Befinden. „So eine Situation stellt vieles in Frage und hat sicher ein Umdenken angestossen, auf der Suche nach alternativen Lösungen, anderer Mobilität und neuen Wegen.“

Andererseits denkt sie an die Strukturen des Kulturbetriebs: „Ich hoffe sehr, dass hier auf Basis der Erfahrungen umgedacht wird. Ich wünsche mir mehr Flexibilität und Spontaneität und mehr Förderung im Ideationsprozess. Ein Grundeinkommen, wie ich es jetzt habe, ist die sinnvollste Förderung, die ich je hatte.“

„Warum wird nicht öfter eine Idee gefördert statt ein fertiges Produkt?“

Rahel Kraft, Klangkünstlerin

Sie nennt ein Beispiel: Die Stadt Zürich unterstützt noch bis Ende 2020 die Kultur sehr kurzfristig mit Geldern für Veranstaltungen. „Warum,“ fragt Kraft, „kann so etwas im kommenden Jahr nicht beibehalten werden?“ Es würde zu einigen Produktionsabläufen ausserdem logischer passen.

Aus wirtschaftlicher Sicht mag der aktuelle Weg plausibel erscheinen, doch Kunst könne man nicht generell mit denselben Massstäben messen. „Warum wird nicht öfter eine Idee gefördert statt ein fertiges Produkt?“

Reinhören: Sound Journeys: Switzerland. Ein Track von Rahel Kraft

Ein Fazit: Wichtige Weichenstellungen für die Zukunft sind nötig

Eine Bilanz mit nur drei Kunstschaffenden zu ziehen, ist sicher nicht „wissenschaftlich belastbares“ Material und doch zeigen diese drei Schlaglichter einige wichtige Einblicke, die bei einer Kulturförderung unter dem Einfluss der Pandemie eine Rolle spielen sollten. Denn nachholen lassen sich die Ausfälle nicht, auf Vorrat produzieren ebenso wenig.

Ganz sicher wichtig wäre wohl ein breiteres Bewusstsein dafür, dass Künstler und Künstlerinnen sich mit den Strukturen ihrer Einkünfte oft nicht mit klassischen Massstäben messen lassen. Ein Punkt, den Alex Meszmer, Geschäftsleiter von Suisseculture, schon im Juli angesprochen hatte: „Vor allem die Kulturschaffenden, die sehr stark wechselnde Engagements haben, kurzfristig angestellt und selbstständig auf Honorarbasis arbeiten, stehen irgendwo dazwischen und fallen dauernd durch die Raster.“

Kulturschaffende arbeiten in vielen Bereichen, nicht nur in der Kultur. Es entstehen viele individuelle berufliche Strukturen, die von staatlichen Abfrageschemen und Berechnungsmodellen nicht abgebildet werden.

Neue Strukturierung ist dringend erwünscht

Mindestens ebenso wichtig ist die Überlegung, wie künftige Förderungen aussehen müssen, um ausfallende Veranstaltungen aufzufangen. Und zwar konkret jene, die gar nicht erst gebucht werden, weil Veranstalter ihrerseits ebenfalls einer grossen Verunsicherung ausgesetzt sind — umso mehr, weil gerade wieder akut auf eine veränderte Situation reagiert werden muss.

Die KünstlerInnen können in solchen Fällen verständlicherweise keine Ausfälle geltend machen, müssen gleichzeitg dennoch weiterhin finanzielle Einbussen hinnnehmen. Einbussen treten zudem dann auf, wenn Veranstaltungen zwar durchgeführt werden können, wegen der geringen zulässigen Besucherzahl aber bei Weitem nicht die Wirtschaftlichkeit zeigen, die für KünstlerInnen und Veranstalter nötig wäre.

„Den Kulturbereich kann man halt nicht einfach aus- und dann wieder einschalten.“

Alex Meszmer, Geschäftsführer Suisseculture (Bild: Sascha Erni)

Mit einer Kombination aus monatelangen Vorlaufzeiten in der Kultur und einem Virus, das so schnell keine Ruhe gibt, wird es noch eine sehr lange Weile dauern, bis sich in der Szene wieder ein Normalbetrieb eingestellt hat, der diesen Namen verdient. Meszmer brachte es so auf den Punkt: „Den Kulturbereich kann man halt nicht einfach aus- und dann wieder einschalten. Die Kulturbranche wird länger von der Krise betroffen sein als alle anderen Branchen und sie wird nach dieser Krise nicht mehr dieselbe sein.“

Kommt ein Grundeinkommen als Nothilfe?

Kann man also ein Konjunkturpaket für die Branche so schnüren, dass die Veränderungen in der Kultur und die Prägungen der Zeit sich mehr im künstlerischen Schaffen ausdrücken werden statt zum Beispiel in sinkenden Künstler­zahlen und reduzierten Angeboten?

Seit März mehren sich die Stimmen für ein bedingungsloses Grundeinkommen als Nothilfe. Denn dass die Soforthilfe für sehr viele Freischaffende, Einzelbetriebe, Selbständige und befristet Angestellte nicht greifen würde, war im März schon klar. Die Zahl der Betroffenen erreicht rund eine Million, rechnet man, dass jeder achte Schweizer selbständig und jeder zwölfte ein befristetes Arbeitsverhältnis hat.

„Wenn die finanziellen Einbussen im Interesse der Allgemeinheit durch Auflagen des Staates entstehen, warum sollte der Staat diese Belastung dann nicht auch auffangen müssen und fairer verteilen?“

Bettina Schnerr, Autorin

Mehr als 90'000 Unterschriften sammelte beispielsweise eine Petition für eine sechsmonatige Unterstützung für jene MitbürgerInnen, die nicht durch Kurzarbeitsentschädigung oder andere Hilfspakete unterstützt werden. Die aktuelle Idee des Grundeinkommens unterscheidet sich in ihren Grundzügen vom 2016 abgelehnten Paket.

Zum Einen ist es nicht dauerhaft ausgelegt, zum Anderen hat sich die Basis der Anfrage verändert mit der Fragestellung: Wenn die finanziellen Einbussen im Interesse der Allgemeinheit durch Auflagen des Staates entstehen, warum sollte der Staat diese Belastung dann nicht auch auffangen müssen und fairer verteilen?

 

Neu gedacht: Drei Projekte der vergangenen Corona-Monate

Der Fotograf Mario Baronchelli erarbeitete das Fotoprojekt „Abgesagt“ und dokumentierte menschenleere Veranstaltungsorte.

https://www.thurgaukultur.ch/magazin/zwischen-horror-und-erhabenheit-4547

 

Christina Nu: Die Malerin erfand während des Lockdowns das Projekt #artandfound, bei dem sie drei ihrer Kunstdrucke in Kreuzlingen versteckte.

https://www.thurgaukultur.ch/magazin/verstecken-und-entdecken-4530

 

Revival des Autokino: Der Juli verschaffte Amriswil in Sachen Kinokultur einen grossen Aufschwung.

https://www.thurgaukultur.ch/magazin/der-autositz-als-kinosessel-4516

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