Seite vorlesen

Die Heimat auf der Zunge

Die Heimat auf der Zunge
«Ich wollte vor allem etwas schreiben, das man gerne liest»: Die Autorin Tanja Kummer über ihr neues Buch «Bigoscht» | © Claudia Herzog

Mit «Bigoscht» legt Tanja Kummer ein lebenskluges Buch vor, das teilweise im Dialekt geschrieben ist, man aber auch dann verstehen kann, wenn man keine Thurgauer Mundart beherrscht. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Frau Kummer, was kann man in Mundart sagen, was man in Hochdeutsch nicht sagen kann?

Man kann alles in Hochdeutsch und Mundart sagen. Mir geht es nur oft so, dass man in der Mundart viele Sachen direkter auf den Punkt bringen kann. Vor allem bei den Gedichten habe ich gemerkt, dass es da in Mundart für mich besser und pointierter klingt und funktioniert.

Ehrlich gesagt, finde ich Mundarttexte ja eher schwierig.

Warum?

Weil sie so etwas Ausschliessendes haben. Wer den Code nicht beherrscht, ist draussen. Sie definieren ein Innen und ein Aussen.

Das geht mir nicht so. Ich lese relativ viele Texte, die auch nicht meine eigene Mundart sind. Ich lese dann einfach laut, dann versteht man vieles doch recht gut. Ich habe aber grundsätzlich einfach ein grosses Interesse am Klang von Sprache. Ich lasse mich da nicht ausschliessen. Das würde ich auch den Leuten grundsätzlich für Gedichte aus „Bigoscht“ empfehlen: Sachen, laut zu lesen. Das hilft manchmal beim Verständnis.

«Für mich hat es etwas sehr Charmantes.»

Tanja Kummer, Autorin, über den Thurgauer Dialekt

Beherrscht man den Dialekt nicht, führt das allerdings auch zu lustigen Missverständnissen: Ich dachte zum Beispiel zunächst, der Titel „Bigoscht“ wäre eine englisch-schweizerische, leicht ironische Anspielung auf den grossen Osten der Schweiz…

(lacht) Das ist aber ein ganz bezaubernde Interpretation. Herrlich!

In Wahrheit bedeutet der es aber...

...so was wie „wahrlich“, wäre wohl eine einigermassen korrekte Übersetzung.

Was macht für Sie die Thurgauer Mundart aus?

Ich bin keine Sprachwissenschaftlerin. Ich kann das mehr aus einer emotionalen Sicht sagen. Für mich hat es etwas sehr Charmantes. Ich finde, es klingt sehr zugänglich, offen und charmant.

Dabei hat der Thurgauer Dialekt einen, nun ja, eher schweren Stand jenseits der Kantonsgrenzen.

Das ist tatsächlich so. Allerdings: Ich wohne seit 20 Jahren nicht mehr im Thurgau, aber dass ich auf den Dialekt angesprochen werde, wird immer seltener. Und wenn, dann ist es selbst in Zürich manchmal sogar eher nett, wenn Leute aus der Ostschweiz zu mir in die Buchhandlung kommen und sich freuen, wenn sie einen vertrauten Dialekt hören.

Wie schreibt man eigentlich Mundart richtig auf?

Ich habe grundsätzlich erstmal so geschrieben wie ich rede. 2013 habe ich das Buch „Alles Gute aus dem Thurgau“ herausgegeben. Das war im Prinzip ähnlich aufgebaut wie jetzt Bigoscht. Und schon dort hab ich mit dem Sprachwissenschaftler Martin Hannes Graf vom Schweizerischen Idiotikon zusammengearbeitet. Er hat mir viel geholfen und erklärt. Schwierig war, dass ich gewisse Wörter je nach Kontext anders sage. Ich konnte Wörter nicht einfach immer gleich schreiben und habe die Texte dauernd vor mich hingesprochen - vor allem beim Spazieren - , um zu hören, wie ich es sage. Die Unterschiede liegen in Nuancen.

Video: Tanja Kummer liest aus «Bigoscht»

«Mit dem Alter wird man vielleicht nicht unbedingt klüger, aber auf jeden Fall gelassener.»

Tanja Kummer, Autorin

Jenseits des Dialekts, geht es in dem Buch auch um das älter, weiser, gelassener werden im Leben. Denken Sie viel über das Alter nach?

Gute Frage. Ich denke darüber nicht ständig in meinem Alltag nach. Aber es ist einfach ein Thema, das mit dem Alter eben kommt. Ich glaube, es gibt da zwei Seiten. Einerseits werden manche Dinge mit dem Alter mühsamer. Andererseits bringt das Alter auch Erleichterungen. So erlebe ich das jedenfalls. In allen inhaltlichen und geistigen Fragen fühle ich mich heute sicherer und stabiler als früher.

Wird man klüger mit dem Alter?

Klüger vielleicht nicht unbedingt. Aber gelassener wird man auf jeden Fall.

Es finden sich in dem Buch auf jeden Fall Lebensweisheiten. Dinge, die man aus dem Leben gelernt hat. Würden Sie das unterschreiben?

Echt? Haben Sie das so empfunden, dass das Buch Lebensweisheiten enthält?

Ja, das war mein Eindruck. Es gibt ein paar Sätze, die möchte man sich unterstreichen.

Ooookay. Ich habe es jedenfalls nicht mit der Intention geschrieben, irgendwas verkünden zu wollen oder etwas weitergeben zu wollen. Als ich das Buch begonnen habe, wollte ich vor allem etwas schreiben, das man gerne liest. Für mich war das Buch eine schöne Ablenkung von dem Virus. Ich habe einen Teil davon im ersten Lockdown im Frühjahr geschrieben.

«Schon unterhaltsam, aber hat nicht viel mit mir zu tun.»

Tanja Kummer, Schriftstellerin, auf die Frage, was die 20 Jahre jüngere Tanja Kummer zu «Bigoscht» sagen würde

Die Geschichten zeichnen sich durch einen eher milden Blick auf das Leben aus. Was würde die 20 Jahre jüngere Tanja Kummer zu diesem Buch sagen?

Schwierig zu sagen. Vermutlich würde sie so etwas denken wie: „Schon unterhaltsam, aber hat nicht viel mit mir zu tun." Allerdings bin ich in meinem Grundton nicht so weit weg von den Gedichten, die ich vor 20 Jahren geschrieben habe.

Warum sollte ich das Buch auch lesen, wenn ich keinen Thurgauer Dialekt beherrsche?

Die Erzählungen kann man ohne Dialektkenntnisse problemlos lesen und verstehen. Wenn man gar nicht weiter weiss, gibt es hinten im Buch einen Glossar, der verschiedene Begriffe erklärt. Bei den Gedichten würde ich empfehlen, sie laut zu lesen. Dann versteht man vielleicht nicht jedes einzelne Wort, aber man bekommt doch einen Eindruck von der Atmosphäre, die die Texte vermitteln.

Video: Tanja Kummer beteiligt sich auch an unserer Weihnachtsaktion


 

Die Autorin Tanja Kummer

 * 1976 in Frauenfeld, ist gelernte Buchhändlerin und schreibt. 2013 erschien der Erzählband «Alles Gute aus dem Thurgau», mit dem sie eine ausgedehnte Lesereise durch den Kanton gemacht hat. Darüber und über die Entstehung des Buchs «sicher ist sicher ist sicher» hat sie auf thurgaukultur.ch gebloggt. Sie lebt heute in Zürich. Mehr zur Autorin auf ihrer Website: https://www.tanjakummer.ch/

 

Insgesamt sind inzwischen neun Bücher von ihr erschienen: Gedichte, Erzählungen und Romane. Der Band «Bigoscht» ist im Arisverlag erschienen: www.arisverlag.ch

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Literatur

Kommt vor in diesen Interessen

  • Belletristik
  • Lyrik

Werbung

Wir lotsen dich durchs Thurgauer Kulturleben!

Abonniere jetzt unsere Newsletter! Oder empfehle unseren Service Culturel weiter. Danke.

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

#Kultursplitter - Agenda-Tipps aus dem Kulturpool

Auswärts unterwegs im März/April - kuratierte Agenda-Tipps aus Basel, Bern, Liechtenstein, St.Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und dem Aargau.

Die Theaterwerkstatt Gleis 5 sucht Verstärkung!

Gesucht wird eine Person für die Buchhaltung und Administration, ca. 50%. Weitere Informationen hier:

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Thurgauer Forschungspreis

Noch bis zum 31. März läuft die Ausschreibung des mit 15’000 Franken dotierten Forschungspreises Walter Enggist.

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Recherche-Stipendien der Kulturstiftung

Bewerbungen können bis 31. März 2024 eingereicht werden.

Kulturplatz-Einträge

Autor:in tgk, Kulturschaffende

Tanja Kummer

8001 Zürich

Ähnliche Beiträge

Literatur

Alles anders als geplant

Eigentlich sollte Michèle Minelli ab diesem Jahr die Programmleitung im Literaturhaus Thurgau übernehmen. Aber schon vor dem Start ist Minelli wieder zurückgetreten. Was ist da los? mehr

Literatur

Post vom Grüffelo-Erfinder

Axel Scheffler hat über 120 Kinderbücher mit seinen Kunstwerken illustriert. Über Jahrzehnte gesammelte Briefumschläge stehen jetzt im Zentrum einer neuen Ausstellung in Konstanz. mehr

Literatur

Von Türen, Zimmern und Geistern

Erst kürzlich hat Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau aus ihrem Debütroman «Feuerlilie» gelesen. Im Oktober stand das Buch auf Platz 5 der SRF-Bestenliste. mehr