Die Verunsicherung des Körpers

Die Verunsicherung des Körpers
Josef Hofer, VI 2004 – 104, Bleistift und Farbstifte auf Papier, 44 x 60 cm |

Josef Hofer ist geistig beeinträchtigt, besuchte nie eine Schule und heute ist er einer der beachtetsten Aussenseiterkünstler. Das Kunstmuseum Thurgau widmet ihm jetzt eine Ausstellung. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Es gibt in dieser Ausstellung ein Video, das zeigt wie akribisch Josef Hofer arbeitete. Wie konzentriert er Striche aufs Papier brachte, wie sorgfältig er seine Farben wählte und wie sehr er in dem Moment versinken konnte. Mehr als 2000 Zeichnungen sind auf diese Weise entstanden. Das Kunstmuseum Thurgau zeigt jetzt mit Leihgaben aus einer Privatsammlung 100 davon in der neuen Ausstellung „Josef Hofer - Ein Lebenswerk“.

Ein beachtliches Werk, das man nicht für möglich halten würde, wenn man auf die Vita von Hofer schaut. Geboren im März 1945 in Bayern, seit früher Kindheit mehrfach behindert, aufgrund von unbehandelten Mittelohrentzündungen ist Hofer nahezu gehörlos und kann nur mit Gebärden kommunizieren.

„Aus Furcht vor Spott lebte die Familie lange Zeit völlig isoliert“, erklärt Museumsdirektor Markus Landert. Eine Schule besuchte Hofer nie, aber schon als Kind fing er an zu zeichnen.

 

Josef Hofer, V 2014 – 1541, Bleistift und Farbstifte auf Papier, 29.7 x 42 cm

Wie Hofers Talent entdeckt wurde

Dass sein Werk heute in zahlreichen Ausstellungen gezeigt wird, verdankt Hofer seiner Betreuerin Elisabeth Telsnig. Sie leitete die Malgruppe eines Wohnheims, in dem Hofer lebte und erkannte dessen Talent.

Telsnig war es dann auch, die 2003 erstmals eine Auswahl von Hofers Zeichenblättern nach Lausanne brachte, wo die Collection de l’Art Brut eine erste Ausstellung organisierte. Seither wuchs das Interesse an seiner Arbeit stetig.

Das Kunstmuseum Thurgau hatte bereits im vergangenen Jahr in der grossen Aussenseiterkunst-Ausstellung Werke von Josef Hofer gezeigt, nun also die Einzelausstellung.

Zu sehen sind Werke aus verschiedenen Schaffensperioden - von den Anfängen bis zu seinen letzten Zeichnungen. Hofer lebt seit 2017 als Pensionist in einem Wohnheim in Ried, seine künstlerische Produktion hat er weitgehend eingestellt.

 

Josef Hofer, II 2005 – 194, Bleistift und Farbstifte auf Papier, 44 x 60 cm

Was prägend für sein Werk ist

Prägend in seinem Werk sind vor allem drei Dinge: Nackte Körper, künstlerische Posen und ein Netz aus gelb-orangefarbenen Gittern, die viele seiner Zeichnungen und Motive rahmen. Das Zeichnen war für ihn einerseits ein Akt der Selbstvergewisserung, aber auch eine Form der Entdeckung von Körpern insgesamt.

So zeichnet er Posen aus einem Egon-Schiele-Bildband nach, auch ein Foto von Helmut Newton dient ihm als Vorlage. Für Kurator Markus Landert gehen diese Arbeiten über reine Reproduktionen hinaus: „Das war eher eine Aneignung von allgegenwärtigen Motiven der Gesellschaft.“

Nacktheit ohne Scham

Interessant daran ist auch, dass Hofer sich selbst meistens nackt malte. Wenn Kleider auftauchen, dann schweben sie wie ihm wesensfremde Dinge durch den Raum oder sind sorgsam in eigene Kästchen verstaut.

Nackte Frauenkörper hat er mutmasslich lange gar nicht gekannt und später nur in Büchern entdeckt. Vielleicht faszinierten sie ihn auch deshalb und er übte sich in einer Imitation der diversen Posen in seinen Zeichnungen. Manchmal zeichnet er einzelne Figuren, manchmal sind die Körper aber auch ineinander verschlungen und verschmolzen.

 

Josef Hofer, VIII-IX 2000, Bleistift und Farbstifte auf Papier, 30 x 40 cm

Interpretationen werden zu Projektionen

Was Hofer damit meinte, konnte man ihn aufgrund seiner geistigen Beeinträchtigungen nie fragen. Ungeklärt bleibt auch das Rätsel der Gitterstrukturen in seinen Bildern.

Sind es Formen, die er in einem Korbflecht-Kurs entdeckt hat? Bildet er hier den Rahmen eines Spiegels ab, der vor seinem Bett stand? Oder ist es das gefühlte innere Gefängnis, in das ihn seine Beeinträchtigungen geführt haben, das so nach aussen drückt? Weil all dies unbeantwortet bleibt vom Künstler, wird jede Interpretation letztlich zur Projektion des eigenen Selbst auf das Werk.

Vielleicht braucht es all die Psychologisierungen auch gar nicht. Weil in Hofers Werk ein ganz anderes Thema liegt: Die Verunsicherung des Körpers und die Uneindeutigkeit zwischen Mann und Frau.

Eine Lesart, die Markus Landert jedenfalls in Hofers Werk gefunden hat: „Damit wären wir mittendrin in den Genderdebatten, die wir in unserer Zeit führen. Hofer nutzt jedenfalls total zeitgenössische Bildstrategien, um uns das deutlich zu machen“, sagt Landert.

 

 Josef Hofer, V 2004 – 79, Bleistift und Farbstifte auf Papier, 51 x 73 cm

Ein Pionier der Genderdebatte?

Ist Josef Hofer also ein früher Pionier des Genderdiskurses? Politisch gesehen wäre das eine Instrumentalisierung und Überhöhung des Werkes, aber jenseits allen Metatextes kann man in den Arbeiten von Hofer zumindest so etwas wie eine Verwirrung der Geschlechtlichkeit erkennen. Fast alle Körper haben Penisse, manche haben Penisse und Brüste. Männlein und Weiblein - diese Kategorien sind bei Hofer nicht so trennscharf.

Allein, was es konkret in seinem Werk bedeuten soll, verharrt im Ungefähren. Beziehungsweise im Kopf der Betrachter:innen. Damit es da nicht allein bleibt und die aktuellen Debatten augreift, bräuchte es mehr vermittelnde Formate wie Podiumsdiskussionen zum Thema.

Vorbild Stapferhaus

Zumindest dann, wenn es das Kunstmuseum wirklich ernst meint mit der Auslegung von Hofers Werk in Richtung Gender. Anregung dafür, wie man dieses grosse Thema aufschlüsseln kann gibt es im Stapferhaus Lenzburg.

Dort ist Ende Mai eine viel beachtete Ausstellung über „Geschlecht“ zu Ende gegangen. Inhalte aus der Ausstellung gibt’s weiterhin in der digitalen Sammlung des Stapferhauses und auf der Plattform #geschlechtergerechter geht die Auseinandersetzung mit dem Thema weiter.

Termine: Die Ausstellung ist noch bis zum 18. Dezember im Kunstmuseum Thurgau zu sehen.

 

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