von Inka Grabowsky, 01.09.2022
Ein Phönix mit zwei Köpfen
Das mutmasslich schönst-gelegene Theater der Schweiz bekommt neue Leiterinnen. Die Tänzerinnen Julia Anna Sattler und Carina Neumer starten im Januar 2023. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Das Publikum hier ist tanzbegeistert und soll sich nicht umgewöhnen müssen», sagt Carina Neumer, die gemeinsam mit Julia Anna Sattler die Geschicke des Phönix-Theaters steuern wird. Die beiden Frauen sind Anfang 30, beide Tänzerinnen und beide seit dem Sommer 2021 Master in Kulturmanagement.
Sie treten in die – unbestritten sehr grossen – Fussstapfen von Philippe Wacker, der vor vier Jahrzehnten das Phönix-Theater mitbegründet hatte. Der 68-Jährige will Ende Jahr seine Teilzeitstelle als Leiter des Theaterbüros aufgeben.
Carina und Julia sind bereits ein eingespieltes Team: «Wir kennen uns rund zehn Jahre», erzählt Carina. «Julia war in der Kompanie des Theaters St. Gallen, als ich neu dazu kam.» Vor vier Jahren haben sie sich beim Studium des Kulturmanagements wiedergetroffen. Nun freuen sie sich, das Wissen aus dem Studium anwenden zu können, wenngleich sie auch jetzt schon – jeweils in Teilzeitpensen – in diesem Bereich arbeiten.
Theorie und Praxis verbinden beide
Julia Anna Sattler ist im Zürcher Kaufleuten für die Bereiche Booking und Abrechnung angestellt und managte bis zur Zusage für das Phönix Theater das Streichorchester reson-art. Carina Neumer arbeitet im Kulturamt Schaffhausen. In ihrer Masterarbeit hat sie die Grundlagen für die Schaffhauser Kulturtage gelegt, die im kommenden Juni unter ihrer Leitung den Nachbarkanton bereichern sollen. Ausserdem ist sie im Leitungsteams der Doxs-Tanzkompanie und Fachexpertin Tanz im Thurgau.
All das muss nicht aufhören. Gemeinsam haben Neumer und Sattler eine Vierzig-Prozentstelle im Phönix-Theater. Noch: «Die Leistungsvereinbarung mit dem Kanton läuft Ende 2022 aus, vielleicht können wir eine Erhöhung verhandeln.»
Ein neues Konzept haben sie ohnehin eingereicht. «Wir hoffen auf mehr Mittel, denn für das eine oder andere der Projekte gäbe es einen grösseren Zeitaufwand.» Sechzig Prozent für beide zusammen wären da besser.
Lokalbezug fehlt noch
Der Bezug zur Tanzszene macht die programmatische Arbeit für die beiden jungen Frauen leichter, ihre Verwurzelung in Zürich respektive Schaffhausen macht es schwieriger, sich an das lokale Publikum anzunähern. «Wir und das Publikum müssen uns erst noch aneinander gewöhnen», so Julia.
Der Verein aus ehrenamtlichen Mitgliedern und ein Vorstand, der sich als Unterstützung und nicht als Kontrollinstanz versteht, sind in diesem Punkt essentiell. «Wichtig ist uns auch der Kontakt zu den Gönnern. Ohne Fundraising kann das Theater nicht arbeiten.» Um sich vor Ort besser zu vernetzen, wird mindestens eine von ihnen bei Aufführungen immer vor Ort sein.
Ausserdem arbeiten sie im Steckborner Phönix-Büro, auch beim Programm-Zusammenstellen am Computer, obwohl das auch aus dem Homeoffice genauso zu erledigen wäre. «Die persönlichen Kontakte im Alltag sind wichtig. Man soll uns mit dem Theater verbinden», sagt Julia. «Wir sind bereits begeisterte Vollmondbar-Gängerinnen», sagt Carina und grinst. «Inzwischen wurden wir sogar schon auf der Strasse gegrüsst.»
Gründlicher Auswahlprozess
Das Vertrauen des Vereinsvorstands haben sich Carina Neumer und Julia Anna Sattler im Bewerbungsprozess erarbeitet. Julia hatte die Online-Anzeige, mit der ein Nachfolger für Philippe Wacker gesucht wurde, gesehen und Carina geschickt. Doch bis zum Abschicken eines Bewerbungsdossiers verging einige Zeit. «Erst eine Woche vor Ende der Frist haben wir es geschafft.»
Philippe Wacker hatte sich selbst zwar aus der Findungsgruppe herausgehalten und nicht mit über seine Nachfolge bestimmt, aber verfolgt hat er den Prozess durchaus: «Es gab sechs ernsthafte, gute Bewerbungen. Vier Kandidaten wurden eingeladen. Alle waren interessant. Für Carina und Julia sprach vor allem, dass sie den Tanz weiterführen wollen. Das Phönixprogramm kann damit seine derzeitige Ausrichtung behalten.»
Aufgabenteilung an der Spitze
Neben der Nähe zum Tanz nahm die Kommission auch die Bewerbung in Co-Leitung für das Duo ein. Die unterschiedlichen Stärken der Managerinnen ergänzen sich. Gemeinsam erstellen sie das Programm und kümmern sich um dessen Vermarktung. Doch Carina wird sich speziell um die Finanzen, die Kulturpolitik und die Strategie kümmern, während Julia sich auf Personelles und Verträge konzentriert. «Und wenn eine mal verhindert ist, kann immer noch die andere einspringen», sagt Julia pragmatisch.
Als sympathisch und offen beschreibt Philippe Wacker die jungen Frauen: «Ihr Auftreten und die Argumentation haben überzeugt. Wenn sie zukünftig für den Erweiterungsbau werben wollen, auf den wir seit Jahren hoffen, werden sie das gut brauchen können.»
«Es ist ein Privileg, auf der Tradition des Hauses aufbauen zu dürfen»
Julia Anna Sattler, neue Co-Leiterin Phönixtheater
Flexibel und spontan
Im Augenblick arbeiten die beiden Neuen am Programm für das erste Halbjahr 2023. «Das Phönix-Theater kann es sich aufgrund seiner kleinen Grösse erlauben, relativ spontan zu sein», so Julia. Ein Halbjahresrhythmus wie in Steckborn gelte in der Branche als sehr schnell.
Grössere Häuser legten zwei Jahre im Voraus fest, was sie zeigen wollen. «Wenn wir flexibel bleiben, eröffnen sich gelegentlich Räume für neue Produktionen. Vielleicht können wir kurzfristig Koryphäen bekommen, in deren Agenda sich gerade eine Lücke aufgetan hat.»
Was kommt nach tanz:now?
Bleiben und gegebenenfalls sogar ausgebaut werden soll die Kinder- und Jugendförderung. «Wir denken an partizipative Projekte mit Schulklassen», sagt Julia. Bisher gehörten solche Aktionen unter anderem zum Festival «Tanz: Now». Zwischen 2005 und 2019 hatte die Kooperation zwischen der Kulturstiftung des Kantons und dem Phönix Theater zeitgenössisches Tanzschaffen aus allen Landesteilen präsentiert, bis Zuschauerschwund dem ein Ende setzte. «Das ist immens schade – für alle Seiten», so Carina.
Trotzdem blicken die Leiterinnen optimistisch in die Zukunft. Sie könnten schliesslich auf ein tanzinteressiertes Zielpublikum aus der gesamten Region zurückgreifen: «Das Phönix ist auch in Schaffhausen ein Begriff. Es gilt als Bijou vom Untersee. Es hat also durchaus eine überregionale Ausstrahlung. Das eröffnet uns Wege, das Haus zu vermarkten.»
Julia ergänzt: «Und es gibt noch das Migros-Kulturprozent-Tanzfestival ‹Steps› und den Nachwuchspreis ‹Premio› für Tanz und Theater, bei dem wir als Vereinsmitglied in der Jury sind und Teilnehmende ins Phönix einladen können.»
«Die persönlichen Kontakte im Alltag sind wichtig. Man soll uns mit dem Theater verbinden»
Carina Neumer, neue Co-Leiterin Phönixtheater
Auf dem Sprung in die Selbständigkeit
Derzeit arbeitet Philippe Wacker die beiden ein. «Er kennt jede Situation. Schliesslich war er vierzig Jahre dabei – das Phönix-Theater ist sein Baby», sagt Carina. Ab dem 1. Januar 2023 sind sie dann alleinverantwortlich. Ihr Vorgänger wird sich für eine Weile ganz zurückziehen, um ihnen ihren Freiraum zu geben.
«Es gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn der Alte immer noch um die Ecken streicht», meint Wacker mit einem Lächeln. Nach einer Auszeit könne er vielleicht einmal als ehrenamtlicher Mitarbeiter helfen.
«Es ist ein Privileg, auf der Tradition des Hauses aufbauen zu dürfen», so Julia. «Philippe hat beste Arbeit geleistet. Er hat es geschafft, hier in Steckborn den Tanz zu etablieren.» Die Leiterinnen haben sich zunächst eine Frist von vier Jahren gesetzt, um ihr Konzept auszuprobieren. Sie lachen: «Aber das Ziel sind schon die nächsten vierzig Jahre.»
Saisonstart im September
Die Saison im Phönix-Theater Steckborn beginnt am 16. September mit POPup – Mono No Aware, einem Tanzstück von T42dance in Zusammenarbeit mit Blind Summit (GB).
Im September wollen die Mitglieder des Theatervereins des «Phönix» bei ihrer Generalversammlung einen neuen Präsidenten wählen. Dann ist der Vorstand wieder komplett.
Von Inka Grabowsky
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