von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 28.07.2025
Eine Heiligenverehrung

Beim diesjährigen Freiluftspiel „Mein Bruder Klaus“ der Bühne Thurtal trifft ein engagiertes Laienensemble auf eine Geschichte voller Klischees, die keinen Zweifel zulassen will. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Die gute alte „Was-wäre-wenn“-Frage ist ein beliebter Ausgangspunkt für zahllose Film- und Theaterproduktionen. Unwahrscheinlichkeiten auszuloten, Ungedachtes neu zu denken und scheinbare Gegensätze aufeinander zu prallen - daraus kann ziemlich guter Stoff für Kino oder Theaterbühne werden. Eine Variante davon geht so: Man lässt Vergangenheit auf Gegenwart stossen und staunt manchmal, wie wenig sich seit Jahrhunderten geändert hat. Oder wie viel.
Insofern war es erstmal eine gute Idee der Bühne Thurtal genau diesen Kniff bei der Bearbeitung einer Geschichte über den Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe, besser bekannt als Bruder Klaus, anzuwenden. Zentrales Motiv in der Version der Bühne Thurtal - das Aussteigen. Niklas von Flüe (hier überzeugend gespielt von Andreas Schönenberger, der im wahren Leben Pfarrer ist) entsagte damals der Gesellschaft aller, um Gott nah zu sein.
Niklaus von Flüe (1417–1487) war ein Schweizer Einsiedler, Mystiker und Friedensstifter. Er lebte zuerst als angesehener Bauer, Richter und Soldat im Kanton Obwalden, war verheiratet und hatte zehn Kinder. Mit 50 Jahren zog er sich mit Zustimmung seiner Frau in die Einsamkeit der Ranftschlucht zurück, um ein Leben in Gebet und Meditation zu führen. Trotz extrem einfacher Lebensweise und völliger Enthaltsamkeit von Nahrung soll er viele Jahre nur von der Eucharistie gelebt haben. Viele Menschen kamen zu ihm, weil sie seinen Rat wollten. 1481 half er dabei, einen Streit zwischen den Schweizer Kantonen zu lösen. So konnte die Schweiz zusammenbleiben. Deshalb gilt er als Friedensstifter. Er wurde 1947 heiliggesprochen und gilt heute als Schutzpatron der Schweiz. Sein Leben steht für Frieden, geistige Tiefe und die Suche nach göttlicher Wahrheit.
Ein Politikberater auf Abwegen
Und heute? Was bringt Menschen heute dazu, sich von der Gesellschaft abzuwenden? Die Inszenierung von Regisseur Oliver Kühn findet ihre Antwort in der Figur des erfolgreichen Politikberaters Matteo Eggimann (Rolf Aerne). Nach diversen ethischen (beruflich wie privat) Grenzüberschreitungen bricht er mit einem Burnout zusammen und landet in einer Klinik.
So weit die Ausgangslage. Und genau diese Geschichte an einem sakralen Ort wie dem Kloster Fischingen zu spielen - was läge näher als das? Klöster sind ja heute oft auch Orte für die Sinnsuche gestresster und geschäftiger Grossstädter:innen.
Diese beiden Welten treffen in der Freiluftinszenierung der Bühne Thurtal nun aufeinander. In wechselnden Szene wird mal der Lebensweg des originalen Bruder Klaus gezeigt und mal jener seines vermeintlichen Wiedergängers fast 600 Jahre später. Auch musikalisch werden die beiden Welten kontrastiert. Während die Mittelalterszenen von Kirchenliedern (Bernd Stromberger und Balz Burch) begleitet werden, klingt die Gegenwart des Matteo Eggimann nach der Popmusik der 1990er Jahre.
Der Fluch der Schmutzkübelkampagnen
Die Zuschauer:innen sehen also einerseits die Wandlung von Niklaus von Flüe vom Soldaten, zum Bauer, zum Richter, zum Gottessucher und Friedensstifter. Im Gegenschnitt folgt die aktuelle Version des Politikberaters Eggimann, der vor allem deshalb erfolgreich ist, weil er mit schmutzigen Tricks arbeitet und die Gegner seiner Klient:innen schlecht macht.
Negative campaigning nennt man solche Methoden in der Fachsprache der Agenturenwelt. Aber auch der viel verständlichere Name „Schmutzkübelkampagne“ trifft es ziemlich gut. Es geht dabei nicht darum, die Stärken des eigenen Kandidaten hervorzuheben, sondern darum die Schwächen des oder der anderen Kandidat:in ins grelle Licht der Öffentlichkeit zu stellen. Am Ende einer solchen von Matteo Eggimann geführten Kampagne bringt sich die Gegenkandidatin um. Schon davor hatte sich seine Frau von ihm getrennt, weil sie mit seinen Methoden nicht mehr einverstanden war.
Vom Saulus zum Klaus: Maria Callas und Tina Turner weisen den Weg
Das alles stürzt Eggimann in eine so tiefe Krise, dass er schliesslich in einer Burnout-Klinik landet. Dort entdeckt er den Bruder Klaus in sich. Geleitet wird er dabei von der Mitpatientin Trudi (Tanja-Mercedes Rieger), von der man nicht so genau weiss, wie gesund sie eigentlich ist. Sie flüchtet beständig in Rollen von bekannten Schauspielerinnen und Sängerinnen. Aber sie ist es, die Eggiman als Maria Callas, Tina Turner und Celine Dion den Weg zur eigentlichen Bestimmung weist: vom Saulus zum Klaus. Tanja-Mercedes Rieger macht das toll, sie wird in dieser Rolle zum Publikumsliebling des Abends.
Anders geht es zu im Mittelalter: In den gegenüber gestellten Szenen aus dem 15. Jahrhundert mit dem originalen Niklaus von Flüe entzieht dieser sich ohne jede Hilfe, nur durch die Stimme Gottes inspiriert, von der Gemeinschaft. Alles gibt er auf, am Ende auch seine Frau und die zehn Kinder. Das Leben des Einsiedlers zieht er jenem der Familie vor. Je länger die Aufführung dauert, umso mehr werden die historischen Szenen zum ganz eigenen niklausischen Passionsspiel.
Wie das Stück auseinander klafft
Und ungefähr da ist dann irgendwann auch der Punkt, wo das Stück auseinander fällt. Weil klar wird, das da etwas verglichen wird, was man nicht vergleichen kann. Zumindest nicht in der Version, die die Bühne Thurtal bietet. So sehr sich das engagierte Laienensemble auch bemüht und tapfer und durchaus überzeugend seine Rollen spielt, kommt es wie es kommen muss: Das Drama des Matteo Eggimann wird im Vergleich zum historischen Drama des Bruder Klaus immer kleiner, die Zeitebenen driften in ihrer Tragweite auseinander, die Inszenierung wird zur Heiligenverehrung, die kaum Zweifel zulässt. Zu diesem Eindruck trägt auch bei, dass die Figuren im Gegenwarts-Teil bis in die Nebenrollen hinein oft überzeichnet sind. Da bleibt kaum Platz für Zwischentöne.
Während der historische Bruder Klaus also aufopferungsvoll, tapfer und ohne Rücksicht auf sich selbst, seinem Leidensweg folgt, wird Matteo Eggimann zu einer bekehrten Klischeefigur seiner selbst. Damit auch jede: Zuschauer:in seinen Wandel versteht, agiert er in weissen, gurugleichen Kleidern, er meditiert natürlich in seinem Garten und sein Glück findet er in Wohnmobilausflügen mit seiner Frau, die dann doch wieder zu ihm zurückgekehrt ist. Weil sich ja jemand, um die Ordnung kümmern muss, wie Sofia Eggimann (Regula Hutter) in einer Szene sagt und dabei Pizzakartons aufräumt. Die Gegenwart des Stücks wirkt in diesen Momenten seltsam gestrig.
Weitere Aufführungen ab 8. August in Rapperswil-Jona
Am Ende gibt es trotzdem freundlichen Applaus von den Zuschauerrängen für das Ensemble. Vielleicht auch als Dank dafür, dass so ein grosses Freilichttheater überhaupt möglich wurde in diesem Sommer am Kloster Fischingen. Nur weil eine Inszenierungs-Idee gescheitert ist, muss man ja nicht das ganze Projekt in Frage stellen. Weitere Aufführungen von „Mein Bruder Klaus“ gibt es vom 8. bis 30. August in Rapperswil-Jona.
Die Bühne Thurtal
Die Bühne Thurtal besteht seit 2010. Die bisherigen sieben Inszenierungen wurden nach Angaben des Vereins von knapp 70 000 Zuschauerinnen und Zuschauern besucht. „Mit aktuellen, geschichtsträchtigen und regional verankerten Theaterstücken bietet die Bühne Thurtal Laienspielerinnen und -spielern die Möglichkeit, unter professionellen Bedingungen hohen Ansprüchen zu genügen“, heisst es auf der Website des Theaters. Bisher wurde an fünf verschiedenen Standorten inszeniert.
Die Organisation aus Wil hat schwierige Jahre hinter sich. Im Mai 2021 stand die Bühne gar vor einem möglichen Aus. Vereinspräsident Willy Hollenstein hatte 2019 die Geschäftsleitung und die künstlerische Leitung dem Schauspieler und Regisseur Simon Keller übergeben. Doch die Corona-Pandemie machte den neuen Projekten einen Strich durch die Rechnung und zermürbte den neuen Chef. Keller warf im Frühling 2021 das Handtuch. Seither hat Willy Hollenstein wieder die Leitung des Vereins übernommen.

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