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von János Stefan Buchwardt, 04.09.2021

Geschick wird Geschenk

Geschick wird Geschenk
Hinterfragungen und Regelbrüche zeichnen Christoph Rütimann aus. Hier an einem Kaktusstrunk, den er zum lebenden Zupfinstrument erhebt, sind doch Ton und Klang eines seiner zentralen Aktionsfelder. | © János Stefan Buchwardt

Hartbesaitet und doch harfenähnlich: Christoph Rütimann bespielt Kakteen. Eine jahrzehntealte künstlerische Passion – weltnah, hingebungsvoll und Teil eines umfassenden künstlerischen Entwurfs. Teil 18 unserer Serie #Lieblingsstücke. (Lesedauer: ca. 10 Minuten)

Ein robustes, lebendiges Instrumentenarsenal an einer, mit Verlaub, biederen Verkehrsachse im Thurtal? – Eine umfangreiche Kakteensammlung an der Kreuzlingerstrasse in Müllheim anzutreffen, mag verwundern. Deren Verbindung zur Musik noch viel mehr.

Mitnichten ist hier ein Botaniker oder Musiker zu Hause. Herr der saftreichen Pflanzenkörper ist der Schweizer Künstler Christoph Rütimann: Kulturkeulenschwinger, Landvermesser, Kulturpreisträger, gern aus den Gleisen springender Strippenzieher unterschwelliger und frappanter Spektakel.

Seit den 1980er-Jahren wirft der zielgerichtet Umherschweifende Gesehenes und Gehörtes erst einmal über Bord. Gerade auch im «Cactaceae»-Sektor durchkreuzt sich sein Tun mit sprachlichen Beifügungen seiner Lebenspartnerin Zsuzsanna Gahse, der ebenso mit vielen Ehrenzeichen bedachten, schriftstellernden Wortartistin und Übersetzerin.

 

Was in botanischen Stallungen in Müllheim Hege und Pflege erfährt, wird in Aktionskunst-Einlagen auf die ihm innewohnenden Klangwelten abgesucht. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Von unerhörtem Klang

Witterungsabhängig ordnen sie sich an, draussen oder drinnen: Kakteen in Reih und Glied. Rütimann selbst ist besorgt um das stachelige Grün, ist es doch seit 1986 integraler Bestandteil einer ausbalancierten Suche nach ungewöhnlichen und authentischen Klangereignissen. Er greift einzelne Exemplare heraus und führt sie zu Aufführungsehren, indem er ihnen, mittels der Stacheln, zupfend Geräusche entlockt. An der Kunst gewidmeten Örtlichkeiten findet das Instrumentarium seine Bestimmung. Mit Streben nach Brillanz und Ruhm hat das wenig zu tun.

Ob nun angesehene Stätten wie die Kunsthalle Basel oder das Museum Tinguely, der ehemalige Füssli-Saal im Kunsthaus Zürich, die Ittinger Rokokkokapelle, der Jardin des Plantes in Paris oder die Abteikirche Bellelay, Bedachtsamkeit macht sich breit, wenn pflanzlichem Leben Tonales abgerungen wird. Staunende Gesichter in Biel, Bordeaux oder Bonn.

Wer sich auf das Spiel der Auslotung von Klangmöglichkeiten einlässt, mag etwas zwischen Kuriositätenkabinett und einer urtümlichen Aufgeschlossenheit verspüren. Je länger die Nadeln behände traktiert werden, umso mehr bietet sich Gelegenheit, zum Kompagnon des Künstlers zu werden.

 

In der Kirche der Kartause Ittingen hatte Christoph Rütimann anlässlich seiner Ausstellung «Der grosse Schlaf und mehr: eine Werkschau» (Thurgau, St. Gallen und Bonn, 2007/08) alles zusammengebracht, was im Kontext der Kakteen entstanden war. | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Beherrschung und Feinheit

Eine grosse Säule im Raum, darauf platziert ein getrockneter und präparierter toter Kaktus, zu erklimmen über eine Leiter. Rütimann spielt darauf, verstärkt über vier Lautsprecher, unten das Publikum. «Was ich gernhabe», sagt er, «ist der Klang, der einen Raum im Raum schafft.» Das war der Einstand im Jahr 1986, im Rahmen eines Statements zur durch die Basler Chemie ausgelösten damaligen Rheinverschmutzung.

«Getrocknete, also hohle Kakteen, von der Ästhetik her an den Korpus einer Violine erinnernd, tönen intensiver», gibt der Erkunder zu verstehen. Er setzt Kontaktmikrofone ein, spielt selbstverständlich auch auf vitalen Individuen. Man wollte dem ausgefeilt Hinhörenden eine wirklichkeitsnahe Art magischen Denkens zusprechen.

 

Christoph Schenker in einem von der Kulturstiftung Pro Helvetia 1989 herausgegebenen Heft zur Kunst Rütimanns: «Es will durch sie nicht etwas gesagt sein, sondern mit ihr etwas gezeigt werden, ihr Inhalt ist nicht mitteilbar.» (… im Bild Christoph Rütimann) | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Entspanntheit sickert durch

Gefasste Verspieltheit ist eine der angewandten Rezepturen, wenn Rütimann bisher ungehörte Klänge aufspürt und sonderbar kombiniert:

Das Stück mit der Callas zum Beispiel, seine zweite Aufführung, bei der er den Gesang der Operndiva mit einem kleinen Kaktus in der einen Hand als Tonabnehmer rudimentär übertrug, während er mit der anderen einen weiteren anzupfte. Kakteendornen zu Tonnadeln umfunktioniert, ihr Fleisch als Schallkörper eingesetzt, Natur für Unkonventionelles erschlossen, das begeistert.

«Zuerst krudes Gekratze, auf einmal Klangwellen wie Nebelschwaden, dann ging es mehrstimmig in die Höhe, weil sich ja verschiedene Nadeln gleichzeitig in die Rillen legten», entsinnt sich Rütimannn mit einnehmender Freude. Parallel gezeigte Live-Aufnahmen mit Fokus auf Schallplatte und Kaktus rundeten das Vorgeführte zur Performance ab.

Auf die Spur kommen

Über solche Offenheit der Bilder muss sich das Publikum erst einmal positionieren. Rütimann überlässt es ihm, sich prozesshaft einzubinden. Allmählich fällt es leicht nachzuvollziehen, was entsteht, wenn etwa der verstärkte Klang von brennenden Holzscheiten wie ein Bergbächlein inmitten der sich damit verbündenden Kakteenmusik erschallt. Oder wenn Rütimann über den tröpfelnd klackenden Toncharakter seiner Zupfsäulen einer lebensgrossen Tuffsteinstele huldigt, quasi im Echo auf deren Entstehung und als Erinnerungsstück an den Jurakalk an sich.

 

In den beiden umfangreichen Buchdokumentationen über Christoph Rütimann «Der grosse Schlaf» und «Die Linie im Kopf» wird, reich bebildert und vertieft, Einblick in die Werkstränge des Künstlers gegeben. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Erforscher, Entwickler, Akteur

Rütimann strickt Weltenzusammenhänge, oftmals auch unter systemischer Einbindung seiner Person. Aus rohen Materialien erschafft er sich ein handhabbares Equipment. Wo er, in Symbiose mit den selbst entwickelten Instrumenten, archaische Klangszenerien aufsteigen und herunterregnen lässt, setzt er energetische Räume frei.

Wenn er sich etwa zusammen mit Zsuzsanna Gahse in der Ein-Seil-Umlaufbahn zwischen Celerina und Marguns auf «Kaktuswortfahrt» begibt und ihre Wortgefüge improvisierend untermalt. Wenn er gewachste, mit schwarzer Farbschicht überlagerte Papierblätter über das Dornenreich(e) zieht, den Vorgang klanglich anschwellen lässt, das zittrig Abgezeichnete als in der Gleichzeitigkeit entstandene Partitur deklariert und schliesslich unter dem Titel «Das Spiel einiger Dornen in Wachs» an die Wand nagelt. Oder wenn er seinen Kakteenklängen die Ton- und Bildaufnahme eines schmatzenden Igels unterlegt. …

 

Im Umgang mit taffen Kakteenkugeln, -säulen und -blättern entäussern sich unerforschte visuelle und auditive Abenteuer. Bebilderungsausschnitt aus «Der grosse Schlaf». | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Neben der Intimität der Kakteengefilde, die sich zum Einstieg in das tonale Denken Rütimanns eignen, steht die Totalität imposanter Klangapparate – wie bei der Einrichtung «In den Tönen» zu den Internationalen Musikfestwochen Luzern, 1997. Bebilderung aus «Der grosse Schlaf». | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Cactuscrackling

Wofür die sprechenden wie singenden Kakteen stehen, ist mehr als liebenswert. Dass sich ein ausgemachter Rundum-Künstler mit Tongesten, Klangarten und Spieltechniken auseinandersetzt, ist verblüffend. Dass er zeichnerischen Notationen nachgeht, sich auf vordergründig kuriose Weise instrumental ausstattet, bisweilen abwegig experimentierend, ist mehr als bemerkenswert.

Wer das Thurgauer Geschenk dieses seines Geschicks annimmt, darf mit ihm in erweiterte Bewusstseinsräume expandieren. Rütimann verkörpert ein Elixier künstlerischer Konsequenz. Er überrascht und macht uns vor, wie wundersam es sein kann, trotzdem nie die Standflächen der eigenen Existenz zu verlieren. Sobald man sich davon angestochen fühlt, wird man ermuntert, selbst auf der Tastatur des vermeintlich Unfügsamen zu spielen.

Was sich bei dem Künstler in eben auch poetisch greifbare Anschaulichkeit kleidet, wird im Fahrwasser (s)einer kindlich anmutenden Disziplin unangreifbar. Wasserspeicherndes Grün macht ihn zum selbstlosen Erfinder und Arrangeur. Nicht zuletzt zum feinnervigen Dompteur seiner selbst, nämlich da, wo er Teil seiner mannigfaltigen Experimente wird.

 

 

Wenn das kammermusikalisch in Schwingung Versetzte tonreich zurückstrahlt, bilden Installation und Aufführung lebendige Zusammenhänge ab und erheben sich gleichsam zu Taktschlägen der Lebensformen an sich. | Bilder: János Stefan Buchwardt

 

Mehrheitlich unversehrt

Auch wenn viele nach dem Spiel erst einmal Rütimanns Hände sehen wollen, das alles sei doch gar nicht so gefährlich. Grundsätzlich verletze er sich nicht, wenn er an den Kakteennadeln entlangfahre. «Natürlich trage ich auch schon einmal eine minime Blessur davon, dann aber eher beim Ein- und Auspacken der Kakteen», gibt der Grenzgänger zwischen Literatur, Musik und bildender Kunst mit einem Anflug von verschmitztem Ausdruck zu verstehen.

Denn harsche Bedingungen und dissonante Beschaulichkeiten gehören längst zum Alchimistenlatein desjenigen, der wie auch immer verborgene Schönheiten auskostet und zähmt. Um dann, bestenfalls mit heiler Haut davonkommend, anbieten zu können, daran zu wachsen.

 

Kakteen für Bellelay: Aufführung vom 4. Juli 2021

 

 

Christoph Rütimann

Christoph Rütimanns Schaffen reicht von Performances über Klang-, Text-, Foto- und Videoarbeiten bis zu klassischen Ausdrucksmitteln wie Zeichnung, Malerei und Skulptur.

Weitere Informationen: www.christophruetimann.ch

 

Aktuelle Ausstellung in Bellelay: www.abbatialebellelay.ch

 

Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst

In unserer neuen Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?

 

Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.

 

Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch, bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.

 

Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!

 

Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Sie werden dann gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden sein.

 

 

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