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Im Schmelztiegel

Im Schmelztiegel
Blubbern, zischen, schmelzen: Laura McGlinchey und Wassili Widmer verwandeln den Shed im Eisenwerk Frauenfeld in ihrer Ausstellung «Melting the iron body»auf famose Weise. | © Wassili Widmer

Eine begehbare Metapher: Wohl noch nie wurden Wesen und Wandel des Frauenfelder Eisenwerk so eindrücklich inszeniert, wie jetzt von den beiden Künstler:innen Laura McGlinchey und Wassili Widmer. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Nein, das hier war kein schöner Ort als alles begann. Es war laut, der Ton war rau, die Arbeit hart. Schrauben, Muttern und Nieten wurden gestanzt. Zur Blütezeit der Fabrik, um 1920, arbeiteten bis zu 160 Menschen im Frauenfelder Eisenwerk.

Es galt die 57-Stunden-Woche (1909), die Druckpfeife schrillte um 6 Uhr in der Frühe zum Arbeitsbeginn und die Stundenlöhne betrugen 1920 in der Schraubenschneiderei 44 Rappen.

Heute ist das Eisenwerk vor allem als kreatives Zentrum von Frauenfeld bekannt: Wohnen, Kultur und Freizeit geben heute den Ton an, die treibenden Druckpfeifen sind längst still gelegt.

Wiederaufbau mit den Mitteln der Kunst

Und da trifft es sich ganz gut, dass die beiden Künstler:innen Laura McGlinchey und Wassili Widmer mit ihrer Ausstellung „Melting of the iron body“ jetzt nochmal an die Geschichte dieses an Geschichten nicht gerade armen Ortes erinnern.

Wobei das Wort „Ausstellung“ eine ziemliche Untertreibung für das ist, was die Schottin und der Schweizer noch bis zum 9. Juli im Rahmen des vom Eisenwerk initiierten Nachwuchs-Stipendiums „Tanz mit Bruce“ in der Shedhalle zeigen. Es ist eher eine überwältigende und hallenfüllende Installation oder noch besser: Es ist der Wiederaufbau der alten Fabrik mit den Mitteln der Kunst.

 

Wo lang? Eine Frage, die man sich häufiger stellt in der Ausstellung. Bild: Wassili Widmer

 

Wie so oft in der Kunst, steht am Anfang die Irritation. Denn: Wer den Shed kennt, wird ihn nun nicht wieder erkennen. Ein schmaler Gang führt hinein, links und rechts deckenhohe Wände aus Papier und Pappmaché.

Manche sind besprüht mit schwarzer Farbe, andere geben den Blick frei auf Zeitungs-Schlagzeilen. „Wer denkt, gewinnt“, steht da zum Beispiel. Und das ist dann doch eine ganz gute Einstimmung auf das, was man hier sehen und erleben kann.

Welcher Weg führt ans Licht?

Laura McGlinchey und Wassili Widmer kennen sich schon eine ganze Weile. Seit ihrem gemeinsamem Masterstudium in Glasgow stehen die Künstler:innen in ständigem Austausch über ihre Kunstpraktiken, sie haben schon häufiger zusammen gearbeitet. Das was sie jetzt in Frauenfeld gemeinsam geschaffen haben, könnte jedoch so etwas wie ihr Meisterstück sein.

Direkt hinter der Eingangsschwelle muss man sich entscheiden: Links rum in einen leicht düsteren, höhlenartigen Gang abbiegen oder geradeaus gehen und den etwas helleren, aber nicht weniger schmalen Pfad vorbei an aufgetürmten Zeitungsschlagzeilen, alten Rechnungen und mathematischen Aufzeichnungen nehmen?

 

Eine gewaltige Archtitektur aus alten Rechnungen, mathematischen Gleichungen und Zeitungsschlagzeilen. Bild: Michael Lünstroth

 

Links wartet am Ende des Ganges eine Videoperformance, die heutige Geschlechterrollen ironisiert (hübsch passend in diesem Zusammenhang auch die Wortnähe im englischen zwischen iron (Eisen) und irony (Ironie)), am Ende des anderen Weges findet man eine blubbernde Schlacke- oder Lavalandschaft (so ganz genau weiss man das nicht beim ersten Blick) aus Pappmaché.

Der deutsche Expressionismus lässt grüssen

Man denkt automatisch an Höllenfeuer, was im Kontext mit den damaligen Arbeitssituation Sinn ergeben könnte. Aber, so erklären die beiden Künstler:innen, das sei nicht intendiert gewesen. Es ging ihnen tatsächlich mehr um die Sichtbarmachung des titelgebenden „Melting of the iron body“. Das Schmelzen als Metapher. Dafür etwas Verhärtetes aufzuweichen. Und dass das eben nicht Verweichlichung bedeutet, sondern ein Fortschritt im menschlichen Denken darstellt.

Es gehört zu den Stärken dieser Ausstellung, dass man das alles direkt auf das Eisenwerk beziehen kann, es aber auch darüber hinaus weist. Auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die es damals gab und heute vielleicht wieder. Starre Konzepte lösen sich auf, lange sicher geglaubte Wahrheiten werden brüchig, herzlich willkommen im Zeitalter der Ambiguität.

Alles kann hier so oder aber auch ganz anders gelesen werden. Nicht umsonst verweist Wassili Widmer im Gespräch auf eine für ihn besondere Inspirationsquelle für diese Arbeit: die Ästhetik im Film des deutschen Expressionismus wie zum Beispiel Fritz Langs „Metropolis“ oder „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene.

 

Ein schwarzes Herz in der Dunkelheit. Bild: Beni Blaser

 

Besucher:innen bei der Ausstellungseröffnung. Bild: Beni Blaser

Kein Entkommen aus dem Labyrinth

Entlang der labyrinthartigen Wege eröffnen sich immer wieder neue Räume. Manchmal sehr intim, manchmal ein bisschen schauderhaft und bisweilen in ihrer Kathedralenhaftigkeit ziemlich überwältigend. Ein Pfad scheint ans Licht zu führen, raus aus dem Dunkel der Fabrik, rein ins Grün der Natur.

Als Besucher:in folgt man dem Weg ein wenig hoffnungsfroh und ungeduldig, um am Ende doch wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird (wie, wird nicht verraten, bei Filmkritiken erklärt man ja auch nicht die eindrücklichsten Plotwendungen).

Aber: Wer genau hinschaut, entdeckt andernorts in den schwarzen Wänden auch immer mal wieder kleine Spalten und Gucklöcher durch die man blinzeln und erspähen kann, was hinter den papiernen Mauern passiert. Bei aller dystopischer Anmutung, so bleiben doch auch immer wieder vorsichtige Zeichen der Öffnung, der Veränderung, der Hoffnung. Besonders in jenen Momenten, in denen die Sonne ihre Strahlen vom Himmel in die Halle schickt.

 

 

Alles kann so sein. Oder so.

Was die Arbeit von Widmer und McGlinchey letztlich so herausragend macht, sind vor allem zwei Dinge. Erstens: Sie schaffen eine begehbare Installation, die Besucher:innen ein im besten Sinn immersives Kunsterlebnis ermöglicht. Immersiv hier mal nicht als technische Überwältigungsmaschine verstanden, sondern eher inhaltlich gedacht: Jeder taucht dort ein, wo es ihm/ihr am angenehmsten oder anregendsten erscheint.

Zweitens: Die Ausstellung verdichtet die Geschichte des Eisenwerks auf die wunderbare Metapher des Schmelzens. Von der Schraubenfabrik (hart) zum Kultur- und Freizeitort (weich). Von der Manufaktur zum Schmelztiegel. Mit dem Handwerk als verbindendes Element, das damals wie heute eine identitätstiftende Rolle spielt.

So ist „Melting of the iron body“ am Ende gleichermassen konkret wie abstrakt. Und das ist dann schon ein ziemlicher Wurf. Ein Werk zu schaffen, das sich mit dem Ort auseinander setzt und trotzdem anschlussfähig und offen bleibt für andere Assoziationen und Erzählungen. Alles kann so sein. Oder so. Grandios.

Termin: Die Ausstellung „Melting of the iron body“ ist noch bis Samstag, 9. Juli, im Shed Eisenwerk zu sehen.

 

Stranger-Things-Fans bekommen hier ihre ganz eigene Assoziation. Bild: Beni Blaser

 

Künstler:innen und Kuratorinnen: Wassili Widmer (ganz links) und Laura McGlinchey (ganz rechts) mit Vanessa Iourno (links) und Mirjam Wanner (rechts). Bild: Beni Blaser

 

Besucher:innen bei der Vernissage im Shed Eisenwerk am 23. Juni 2022. Rechts die Künstlerin Laura McGlinchey im Gespräch. Bild: Beni Blaser

 

Freuen sich über die Eröffnung ihrer Ausstellung: Laura McGlinchey und Wassili Widmer. Bild: Beni Blaser

 

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