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von Bettina Schnerr, 20.06.2022

Raum für Nähe schaffen

Raum für Nähe schaffen
Ruth Erat lädt zur Eröffnung der Literaturtage Arbon in das kühle Fotoatelier und gewährt einen Blick auf die Bilder, die den Ausgangspukt für die literarische Reise an diesem Abend bildeten. | © Bettina Schnerr

Noch bis Donnerstag laufen die Literaturtage Arbon. Der Auftakt am Wochenende im wunderschönen Haus Max Burkhardt ist geglückt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

«Ich sehe was, was du nicht siehst.» So eröffnet die Autorin Andrea Gerster die Premierenlesung der Literaturtage Arbon. Mit diesem Satz lässt sich manches zusammenfassen, was sie und Mitorganisatorin Ruth Erat seit fünf Jahren literarisch zusammen stellen und erleben – und auf ihren Veranstaltungen sichtbar machen wollen. Gleichzeitig signalisiert es eine gewisse Frische und Flexibilität, mit der die beiden die Veranstaltungsreihe gestalten.

Das Format hat sich, obgleich noch jung, gut eingespielt, wie Erat verrät: «Oft soll es gross hergehen, dabei ist doch das, was Nähe schafft, das Spannende und Interessante und das, was das Publikum hier so schätzt.»

Das Arboner Kammerformat bringt Publikum und Kunstschaffende nah zueinander. Das funktioniert am Eröffnungsabend an diesem Abend genau so wie gewünscht. Entweder man kennt sich bereits oder man wird schnell angesprochen und steckt im Gespräch.

 

Ein Literaturangebot, das Publikum und Literaturschaffende zusammenbringt, so verstehen und gestalten Ruth Erat und Andrea Gerster die Literaturtage Arbon vom Veranstaltungsort bis zum Rahmenprogramm. Bild: Bettina Schnerr

Eine experimentelle Fotostory

Die Eröffnung stand unter dem Motto «Arbon unerwartet» und bot ein Format mit grossem Reiz. Mit Fotos von Martin Stierli gestalteten Ruth Erat und Andrea Gerster neue Texte für den Abend, ganz ohne Vorgaben.

Die je fünf Bilder waren ihnen zugelost worden, sodass keine der beiden wusste, was auf sie zukommen würde. «Eine Woche Zeit hatten wir,» sagt Erat, die schmunzelnd ihre grosse Lust auf Herausforderungen verrät: «Ich hätte gerne direkt am Morgen vor dem Anlass zugelost. Aber das wäre vielleicht ein wenig zu experimentell geworden.»

Bilder zu Texten

Doch auch mit der «langen» Vorbereitungszeit war genug Überraschung geboten. «Ich hatte wirklich andere Bilder erwartet,» sagt Andrea Gerster, die in diesem Jahr mit einer Spoken-Word-Arbeit eine Nominierung für den Schweizer Kinderbuchpreis einfahren durfte.

Stierlis Auswahl fiel unter anderem auf ein Tretboot, das von einigen Männern durch die Stadt geschoben wird, auf eine einsame Möwe über dem Ufer, einen kleinen Bratwurst-Imbiss oder eine kahle Hochhausfassade mit leeren Balkonen.

Wie verbindet man das nur mit einem schwarzen Pontiac, der an «Knight Rider» erinnert, oder mit den Foto der drei Heidschnucken auf einer Wiese zwischen Wohnhausblöcken?

 

Die Location schlicht, die Imagination grossartig: Andrea Gerster schöpft mit ihrem Text aus dem Vollen und wechselt spielerisch zwischen Innenansichten, Gesellschaftskritik und Absurdem. Bild: Bettina Schnerr

Das Unerwartete als unerwartet gute Inspiration

Dann legt Gerster mit ihrer Geschichte über den Grafiker einer Werbeagentur los. Sie startet friedlich mit der Aussicht aus dessen Fenster und dreht eine sozialkritische Schleife über seine familiäre Herkunft und Benachteiligung und Vorurteile, die daraus erwachsen.

Am Ende wechselt Gerster leichtfüssig ins Absurde, als sie die weiteren Bilder als Motive für einen imaginären Werbeflyer der Stadt benutzt. Nicht, ohne ihren Werbegrafiker ein bisschen photoshoppen zu lassen und das gewiss nicht zum Vorteil des Flyers.

Nach der Ratlosigkeit kommt das Schreiben

Ruth Erat hingegen entwickelte eine Elegie über Louisa, die ein Fotoalbum gestaltet. Louisa erinnert sich durch die Fotos unter anderem an den Architekten Dubois, einen Schüler von Le Corbusier, der in Arbon vieles für die Saurer-Werke gebaut hat.

Auch Erat durchlief eine kurze Phase der Ratlosigkeit. «Doch wenn man sich konzentriert und nicht lange herum überlegt, merkt man plötzlich: Hier ist mein Thema!»

 

Eine denkmalgeschützte Jugendstilvilla, gestaltet vom ehemaligen Besitzer Max Burkhardt, ist das Zuhause der Literaturtage. Bild: Bettina Schnerr

Veränderung ist Teil der Geschichte

Andrea Gerster und Ruth Erat gestalten die Literaturtage Arbon spürbar mit viel Esprit und Offenheit. Stand ihnen zu Beginn noch das gesamte Haus zur Verfügung, ist eine Wohnung des Hauses Max Burhardt inzwischen vermietet. Ein weiteres Stockwerk ist Teil des Angebots «Ferien im Baudenkmal». Aber als Gesprächssalon und für den Bücherverkauf können die Organisatorinnen zumindest diese Räume parallel zum früheren Atelier weiterhin nutzen.

Die Veranstaltungspause der vorigen Jahre führte zudem zur Erweiterung der Angebote in den Garten, wo ein offenes Zeltdach einlädt. «Eine tolle Location, die Publikum und Kunstschaffende sehr schätzen,» weiss Erat und aus der Notlösung wurde umgehend ein fester Bestandteil der Literaturtage.

Disziplinen spielen miteinander

Die Formate bleiben flexibel und werden der präsentierten Literatur angepasst. Mal kombinieren Erat und Gerster eben mit Bildern, mal mit Musik und mal mit szenischen Lesungen. Dem Muster bleiben die beiden vielseitigen Künstlerinnen auch in diesem Jahr mit ihrem Programm treu.

Und während wir mit Worten von Andrea Gerster begonnen haben, schliessen wir am besten mit Ruth Erat, der Abschluss ihrer Geschichte und Ausblick in die Zukunft gleichermassen: «Man muss vielleicht keine Angst haben.»

 

Litertaturtage Arbon – das weitere Programm

Mittwoch, 22. Juni

15.30 Uhr: Lorenz Pauli (für Kinder und Eltern)

Ort: Stadtbibliothek Arbon

19 Uhr: Tom Kummer: Von schlechten Eltern (Lesung)

Ort: Haus Max Burkhardt

 

Donnerstag, 23. Juni

19 Uhr: Tina Stroheker: Hana oder Das böhmische Geschenk (Lesung)

Ort: Haus Max Burkhardt

 

Anmeldung ins Haus Max Burkhardt: ruth.erat@gmx.ch

Eintritte frei; Kollekte

 

 

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