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von Inka Grabowsky, 28.09.2022

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Judit Villiger (mitte) stellt Bianca Dugaro und eines iher kleinen Fotomodelle (links) vor. | © Inka Grabowsky

Im Steckborner Haus zur Glocke setzen sich Gegenwartskünstlerinnen mit der Klöppel-Geschichte des Ortes auseinander. Dabei dient die Spitze lediglich als Inspiration. Entstanden sind Fotografien, Videos, Installationen, Zeichnungen und Lackarbeiten. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Die «Geduld» ist gross. Die Installation von Eveline Cantieni füllt den Eingangsraum des «Haus zur Glocke» in Steckborn fast vollständig aus. Lange Textilschläuche sind an Bügel festgeklammert und verwirren sich am Fussboden. «Ausgangspunkt war für mich der Spruch einer Lehrerin im Handarbeitsunterricht: Langes Fädchen, faules Mädchen», erzählt die Künstlerin. «Das brachte mich zum Geduldsfaden, der oben in meiner Installation total eingespannt ist. Unten platzt es dagegen fast vor Ungeduld.»

Fäden ziehen sich regelmässig durch ihr künstlerisches Schaffen. An der Wand hängt eine inverse Kohlezeichnung eines Klöppelmusters. Cantieni hat eigens extra-schwarze Pflanzenkohle hergestellt, auf Papier aufgetragen und dann feinsäuberlich die weisse Spitzenstruktur hineinradiert.

Mit dem Prozess des Klöppelns setze sie sich in einem Animationsfilm auseinander, der im Obergeschoss läuft. Das Klicken des Soundtracks durchzieht das ganze Haus. «Bei mir kommt automatisch immer etwas Textiles dazu», so die Winterthurerin. «Vielleicht hat meine Grossmutter mich geprägt, der ich als Kind zusah, wie sie als Repassiererin Laufmaschen in Strümpfen ausgebessert hat.»

 

Die Video-Projektion über das Klöppeln von Eveline Cantieni prägt mit ihrm Soundtrack das ganze Haus. Bild: Inka Grabowsky

Geschichte des Hauses und des Dorfes

Früher wurde im Haus zur Glocke in einem Mercerie-Laden Spitze verkauft, zum Teil geklöppelt von den vielen Heimarbeitern des Dorfes, die einen kleinen Nebenverdienst brauchten. Rund hundert Jahre lang gab es in Steckborn eine regelrechte Industrie: Händler brachten Rohmaterial und «Klöppelbriefe» - also Muster - und verkauften die fertigen Produkte.

Diese Geschichte nahmen die Co-Kuratorinnen Judit Villiger und Gabriele Lutz auf, um zeitgenössische Künstlerinnen zum Dialog aufzurufen. «Es sollte nicht um das Klöppeln an sich gehen», erklärt Villiger. «Es gibt Aspekte des Klöppelns als Kulturtechnik, die immer noch in Steckborn herumgeistern. Sie wollten wir mit Gegenwartskunst verbinden.»

Der Einladung gefolgt sind neben Eveline Cantieni Brigitte Buchholz, Sandra Capaul und Bianca Dugaro. Videoinstallationen des 2020 verstorbenen Ernst Thoma ergänzen ihre Werke. «Seine Videos haben mich ans Klöppeln erinnert», meint Villiger. «Ein Klöppelbrief abstrahiert das Muster. Und genau das macht Ernst Thoma mit Landschaftsbildern.»

 

Eveline Cantieni zeigt „Geduld". Bild: Inka Grabowsky

Haar zu Gold gesponnen

Es ist nicht nur das Klöppelgeräusch, dass alle Exponate in den passenden Rahmen stellt. Wie eine Klammer ziehen sich auch die Fotos von Bianca Dugaro durch die Ausstellung. «Ich habe in den vergangenen fünf Jahren die Aufgaben als Mutter und Künstlerin zusammen gedacht», sagt die junge Frau. Was das genau bedeutet? Sie hat in ihrem Alltag künstlerische Arbeiten entwickelt.

Beim Bürsten der Haare ihre beiden Kinder fielen einige Strähnen der Schere zum Opfer, weil die Kletten und Knoten zu widerspenstig waren. Sie bildeten nun ein Archiv für Fotos zum Thema «Haare zu Gold spinnen.»

Die Profi-Fotografin schuf dazu unterschiedlichste Bilder  -  vom Schnappschuss morgens beim Aufstehen über das Passfoto bis zum inszenierten Haar-Portrait. Der Gebrauch diverser Kameras und diverser Fotopapiere für die Abzüge erlaubt interessante Vergleiche.

 

Bianca Dugaro liess sich von den Haaren ihrer Kinder zur Fotos unter dem Motto „Haare zu Gold spinnen“ inspirieren. Bild: Inka Grabowsky

Care-Arbeit hält viele Fäden in der Hand

Die berufliche Existenz neben der Arbeit als Künstlerin prägt Brigitte Buchholz ebenfalls. Sie war Pflegefachfrau, bevor sie sich der Familienarbeit widmete. Zur Künstlerin bildete sie sich erst mit Mitte Vierzig weiter. «Vor rund fünf Jahren habe ich das Thema Care-Arbeit in den Mittelpunkt meines Schaffens gestellt», erzählt die heute 65-Jährige. «Who cares – we care» ist der Übertitel vieler ihrer Werke.

Für die Ausstellung im Haus zur Glocke hat sie die Schnittmenge zwischen Klöppeln und Care-Arbeit analysiert und viel gefunden. Beim Klöppeln habe man viele Fäden gleichzeitig in der Hand, das sei bei der Care-Arbeit genauso.

Seide und Gefühle

Buchholz zeigt einen Vorhang mit traditioneller japanischer Sashiko Stickerei. Sie wird genutzt, um Stoffe dekorativ zu reparieren. Die Analogie liegt auf der Hand. Auch menschliche Pflege will heilen, in Stand setzen, in Ordnung bringen.

«Meine Materialen suche ich jeweils passend zum Thema: Hier entschied ich mich für Aludraht, der stabil alles zusammenhält, aber eigenwillig ist. Fragile Seide repräsentiert den emotionalen Teil der Care-Arbeit. Die ist sehr vielschichtig, und auch hier sind die Zwischenräume sehr bedeutsam – wie bei geklöppelter Spitze.»

 

Brigitte Buchholz illustriert mit textilen Werken Aspekte der Care-Arbeit. Bild: Inka Grabowsky

Spitze durch Spritzer

Muster wie bei geklöppelter Spitze hat Sandra Capaul zur Ausstellung beigesteuert. Faszinierend dabei ist besonders der Herstellungsprozess, weshalb sie ihn mit einer Installation hervorhebt.

Für ihre Serien «Flow» oder «Sulfurous» trug sie zwei unterschiedliche Kunstharzlacke auf Platten auf, die sie auf einer Töpferscheibe rotieren liess. Die flüssige Farbe vermischte sich. «Beim Betrachten der entstandenen Bilder passiert etwas. Man überlegt: Welche Kräfte haben gewirkt, was spielt hier ineinander.» Wie beim Bewundern von Klöppelspitze braucht man einen Blick für das Detail.

Kleider aus Lack

Um ihr Atelier von den Auswirkungen der Zentrifugalkraft sowie der Co- und Adhäsionskräfte zu bewahren, lässt Capaul ihre Platten in einer Schutzkabine herumwirbeln. Papierbahnen schirmen den Boden und die Wände vor Farbspritzern ab. Diese Schutzschicht gewann mit Blick auf das Thema im Haus zur Glocke ein Eigenleben.

«Ich habe sie zunächst spielerisch weiterverwertet und mir wie ein Spitzenkleid angelegt», so die Churerin. «Wenn ich die Spritzer als Spitze lese, sehe ich Muster.» Aus der Idee entstanden ganze Stapel von «Lack-Kleidern».

 

Dick aufgetragener Klarlack, mit blauer Farbe zu Grün kombiniert und durch die Zentrifugalkraft verlaufen: Sandra Capaul schafft mit einer Töpferscheibe. Bild: Inka Grabowsky
Sandra Capaul vor der Schutzkabine, in der sowohl ihre Lackbilder als auch die Papierbahnen mit Lack-Spritzern entstehen. Bild: Inka Grabowsky

Mehr anderenorts

Die Ausstellung «Neu aufgespult» ist ein Kooperationsprojekt. So wie früher die Steckborner Spitzenklöppler mit der Hutindustrie in Wohlen (AG) zusammenarbeiteten, so zeigt nun das dortige Strohmuseum im Park einen zweiten Teil des «Dialogs zwischen Spitzenklöppeln und Gegenwartskunst.»

Hier stellen Annaliese Hess und Margrit Linder aus. Am 23. Oktober organisiert das Haus zur Glocke eine Exkursion zum Strohmuseum.

 

Die Öffnungszeiten & das Rahmenprogramm

Das Haus zur Glocke www.hauszurglocke.ch an der Seestrasse 91 in Steckborn ist samstags von 16 bis 22 Uhr und sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet.

 

Am 1.10. Spoken Word Performance mit Sarah Altenaichinger

Am 8.10. «6x6 Einblicke in künstlerisches Schaffen» - Filmporträts von Christoph Ullmann

 

Finissage von «Neu aufgespult» am Samstag, 22.10.2022 von 17 bis 22 Uhr mit einer Konzertperformance von Irina Ungureanu

 

 

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