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Zeit des Erwachens

Zeit des Erwachens
Die Künstlerin Mirijam Špendov in ihrem Atelier in Zürich. | © Michael Lünstroth

Beim „Heimspiel“ berührte Mirijam Špendov mit einer sensiblen wie klugen Arbeit über Erinnerungen. Folgt jetzt ihr Durchbruch als Künstlerin? Ein Atelierbesuch bei einer bemerkenswerten Frau. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Wer den Namen Friesenberg zum ersten Mal hört, hat sofort ein verschlafenes Nest irgendwo an der Nordseeküste im Kopf. An eines der bevölkerungsreichsten Quartiere der Stadt Zürich, denkt man erstmal nicht. Dabei ist genau das richtig. Friesenberg liegt unterhalb des Uetlibergs, vom Hauptbahnhof fährt man mit der Tram gute 20 Minuten, die oben auf dem Berg liegende Burg Friesenberg (benannt nach einem alten Ritter- und Ratsgeschlecht «de Vriesenberch») gab dem Bezirk den Namen. Heute ist von der Burg nur noch eine Ruine übrig. 

Kommt man zum ersten Mal in dieses Quartier, wundert man sich wie grün ein Stadtteil sein kann, der doch auch sehr geprägt ist von seinen Wohnblöcken. Rund 11’000 Menschen leben hier, eine von ihnen ist Mirijam Špendov. Sie lebt hier nicht nur, sie arbeitet hier auch. In einem hellen und lichtdurchfluteten Bungalow hat sich die 54-Jährige ihr Atelier eingerichtet: Parkettboden, weiss gemauerte Wände, ein grosser Schreibtisch und viel Kunst an den Wänden.

Mirijam Špendov ist Künstlerin und man verrät nicht zu viel, wenn man jetzt schon sagt, dass sie aktuell eine der spannendsten Künstlerinnen der Ostschweiz ist. Bei der jüngsten Ausgabe des Heimspiel hat sie jedenfalls mit einer berührenden Arbeit auf sich aufmerksam gemacht. 

 

Lose Fäden der Erinnerung: Mirijam Špendov grandiose Arbeit «Heimisch» beim Heimspiel im Werk2 in Arbon. Bild: Michael Lünstroth

Wie sie beim Heimspiel das Publikum faszinierte

Auf Leintüchern hatte sie Szenen aus Super8-Filmen ihres Vaters nachgenäht. Die Familie am Strand, beim Essen an einer grossen Tafel mit Freunden, Porträts ihrer Eltern. Was die Arbeiten so aussergewöhnlich machte war, dass die Fäden der Bilder an den Enden der Tücher ausfransten. Das war genial wie anrührend, weil es das Thema Erinnerungen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so auf den Punkt brachte, dass man gar nicht anders konnte als staunend davor stehen zu bleiben. „Heimisch“ heisst die Serie, sie ist bereits 2005 entstanden. Wie kam es dazu?

„Eigentlich wollte ich die Szenen des Videos nachzeichnen, aber ich habe bei der Arbeit gemerkt, dass das nicht stimmig ist. So kam ich auf die Idee mit den Fäden“, sagt die Künstlerin, wenn man sie auf diese Arbeit anspricht. Das zeigt ein bisschen wie Mirijam Špendov arbeitet. Sie hat oft klare Vorstellungen davon, wohin sie will, beim Weg dahin gibt sie sich aber flexibel. „Ich experimentiere viel, vieles entsteht auch aus dem Moment“, sagt die 54-Jährige. Auf einem Schreibtisch stehen Farben, Stifte und Pinsel bereit. Gerade übt sie an Aquarellen. Als Unterlage dient ihr eine alte Ausgabe des „Tagesanzeiger“.

Aufgewachsen im Ausländerquartier. So hiess das damals noch.

Wir treffen uns an einem Dienstag im Mai. Špendov trägt eine hellblaue Hose, ein graues Hemd, ein offenes Lächeln und sehr wache Augen im Gesicht. Dass sie mal Künstlerin mit einem eigenen Atelier werden würde, das habe sie sich selbst lange nicht vorstellen können, sagt sie. Tatsächlich war ihr Weg in die Kunst nicht der direkteste. Sie ist 1971 in Wil geboren, ihre Eltern stammen aus Slowenien. Aufgewachsen ist sie im, so hiess das damals noch, Ausländerquartier in Wil. Als Kind habe sie zwar schon viel gemalt und Baumrinden geschnitzt, aber dass man so etwas wie Kunst als Beruf wählen könnte, schien eher abwegig.  

„In meiner Familie stand an erster Stelle nicht die Frage, wie man sich selbst verwirklichen kann, sondern die Frage, wie kommst du ans Brot“, erinnert sich Špendov. Deshalb entscheidet sie sich für eine Ausbildung. Sie wird Kindergärtnerin, arbeitet mit Kindern und ist eigentlich auch glücklich mit der Aufgabe. Trotzdem ist die Kunst immer noch in ihrem Kopf, im Alter von 24 Jahren geht sie an die Kunsthochschule, absolviert erst den Vorkurs und dann das gesamte Studium. „Am Anfang wollte ich Bildhauerin werden, habe mich dann aber umentschieden, weil ich in verschiedenen Bereichen arbeiten wollte“, erklärt die Künstlerin ihren Weg. 

 

„In meiner Familie stand an erster Stelle nicht die Frage, wie man sich selbst verwirklichen kann, sondern die Frage, wie kommst du ans Brot.“

Mirijam Špendov, Künstlerin

Zwischen 2000 und 2005 folgen die ersten Ausstellungen. Dann wird sie selbst Mutter und arbeitet zwar weiter künstlerisch, sie stellt aber nicht mehr aus. Das nimmt erst seit drei Jahren wieder zu. Bei der Schlossmediale Werdenberg zeigt sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Gabrielle Dannenberger Werke, 2023 gewinnt sie ein Kunst-am-Bau-Projekt in ihrer Heimatstadt Wil. 

Hier hat sie eine Mauer mit Ziffern und ausgeschriebenen Zahlen in verschiedenen, in Wil gesprochenen Sprachen beschriftet. Für die Künstlerin war das ein besonderes Projekt. Weil es in der Stadt spielt, in der sie aufgewachsen ist und weil es auch mit ihrer Geschichte zu tun hat. „Durch das Lesen der Ziffern werden Spazierende zum Zählen der Treppenstufen in der eigenen Muttersprache ermuntert, denn die meisten Menschen – auch wenn sie mit dem Deutschen vertraut sind – zählen stets in der Muttersprache“, sagt Špendov.

Ein Kaleidoskop der Kunst

Betrachtet man ihr gesamtes Werk, ist es fast wie ein Blick durch ein Kaleidoskop auf die Kunst, die sich in sämtlichen Spielarten zeigt: Sie zeichnet, sie malt, sie fotografiert, arbeitet installativ und immer wieder auch textil. Sich festlegen auf einen Stil oder ein Material? Das kam für sie nicht in Frage, dazu war sie immer zu sehr auf der Suche nach der perfekten Umsetzung für das jeweils anstehende Thema. Vielfalt hilft da sehr. Sie schöpft für ihre Arbeit aus dem Alltag, was um sie herum passiert, aber auch weltweit. Globale Entwicklungen verfolgt sie genau, was politisch auf der Welt gerade passiert, beunruhigt sie sehr. Natürlich fliesst das auch in ihre künstlerische Arbeit.

Sie stelle sich vor allem immer zwei Fragen bei der Themenwahl: „Berührt es mich? Und ist es gesellschaftlich relevant? Trifft beides zu, dann gehe ich den nächsten Schritt und überlege, wie, in welcher Form und mit welchem Material ich arbeiten möchte“, erklärt die 54-Jährige. Neben der theoretischen Gedankenarbeit bedeutet das für sie vor allem auch: Experimentieren. „Nicht alle Ideen, die sich am Anfang gut anhören, funktionieren dann auch. Deshalb muss man offen bleiben für Abzweigungen und neue Wege im künstlerischen Prozess“, findet Špendov. 

 

Mirijam Špendov beim Aufbau des Kunst-am-Bau-Projekts "In welcher Sprache zählst du?" in Wil (September 2023). Bild: Gabrielle Dannenberger

Daniel Spoerri? Findet sie grossartig.

Tischsituationen faszinieren sie, sie ist auch Fan von Daniel Spoerri. Diese Momente bei Tisch, was da zwischenmenschlich passiere, sei doch ziemlich spannend, findet die Künstlerin. Eine Inspirationsquelle sei aber auch ihre ganz eigene Geschichte: „Der Rucksack, den ich mitbekommen habe, natürlich prägt mich der auch in meiner Arbeit“, erklärt Špendov. 

Was sie damit vor allem meint, ist ihr Aufwachsen als Secondo in der Schweiz. Sie erinnert sich dabei an einen Satz, den eine ihrer Lehrerinnen zu ihrer Mutter gesagt hat: „Bei ihren Kindern merkt man gar nicht dass sie Ausländerkinder sind!“ Das sei damals sicher nett gemeint gewesen, „aber wie schrecklich ist dieser Satz, wenn man ihn sich genau anschaut?“, fragt Špendov.

Sie hat für sich daraus gelernt. „Es macht einen Unterschied, ob du in einem Ausländerquartier am Rande der Stadt aufwächst oder in der hübschen Altstadt von Wil. Das will ich in meiner Arbeit kritisch anschauen, aber auch mit einer gewissen Leichtigkeit, es soll nicht verbittert sein“, sagt die Künstlerin heute. Verbittert wirkt sie auch überhaupt nicht. Eher sehr fokussiert.

Ihre zweite Leidenschaft: Unterrichten.

Mirijam Špendov hat sich in ihrem Schaffen in den vergangenen Jahren stets weiter entwickelt. Auf ihr Studium im Bereich Werken an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), setzte sie später einen Master in Vermittlung von Kunst und Gestaltung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.

Heute arbeitet sie in einem 50-Prozent-Job als Lehrerin für Gestaltung und Kunst an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Hier bringt sie angehenden Lehrer:innen bei, wie sie idealerweise Kunst unterrichten. Eine zentrale Botschaft, die sie den künftigen Lehrkräften mit auf den Weg geben will, lautet so: „Begeisterung kann man bei den Kindern nur wecken, wenn man selbst begeistert ist.“

Das sei um so wichtiger, weil kreative Fächer wie Kunst in Bildungsdebatten ja oft unter die Räder kommen. „Dabei nimmt man den Kindern ganz viel, wenn man ihnen nicht zeigt, wie man mit Bildern umgeht. Gerade in unserer Zeit, die sehr geprägt ist von Bildern“, findet die Pädagogin in der Künstlerin. Die Aufgabe als Lehrerin findet sie nach wie vor reizvoll: „Wir als Lehrpersonen sind diejenigen, die die Skills, die in den Kindern schlummern, wecken können. Was könnte es Schöneres geben?“, fragt Špendov. 

 

Mirijam Špendov bei der Arbeit in ihrem Atelier. Bild: Michael Lünstroth

Die Angst vor der Ideenlosigkeit

Selbst wenn die Mischung aus pädagogischer und eigener künstlerischer Arbeit manchmal herausfordernd sei, „so bin ich doch froh, dass ich beides habe“, sagt Špendov. Wie es für sie jetzt künstlerisch weitergehe? „Manchmal habe ich Angst, dass mir das Material ausgeht. Ehrlich gesagt befürchte ich, nach jeder abgeschlossenen Arbeit, dass ich jetzt keine neuen Ideen mehr habe. Aber dann geht es doch immer irgendwie weiter“, sagt sie lächelnd. 

Tatsächlich arbeitet sie längst an neuen Themen im Atelier. Aber irgendwann müssen die auch mal raus, natürlich möchte sie auch diese Werke einem Publikum zeigen. Nur im Atelier zu arbeiten, fern jeder Öffentlichkeit - das wäre nichts für Mirijam Špendov. Kunst braucht ein Gegenüber, ist sie überzeugt. 

Schwer vorstellbar, dass sich das angesichts ihres Talents und der Vielfalt ihres Werk, nicht fast wie von alleine ergeben sollte. 

 

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