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Der Spurensucher

Der Spurensucher
Othmar Eder, Thurgauer Kulturpreisträger 2025, mit Schildkröte Bella. | © Michael Lünstroth

Othmar Eder erhält in diesem Jahr den Thurgauer Kulturpreis. In seinem Werk verbinden sich Vielfältigkeit und Beharrlichkeit. Wenige haben einen so genauen Blick wie er. Eine Begegnung. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Es ist vermutlich übertrieben zu sagen, dass Bella in ihrem Leben schon viel gesehen hat. Dazu ist ihr Radius einfach zu klein. Alles in allem vielleicht sechs, sieben üppig begrünte Quadratmeter sanft umzäunten Terrains in einem Garten hinter einem alten Bauernhaus in Stettfurt nennt sie ihr Eigen.

Wäre das hier ein Film, dann würde jetzt der Megazoom angeworfen, um die Dimensionen zu veranschaulichen: vom Weltall auf die Erde, auf die Nordhalbkugel, auf Europa, auf die Schweiz, den Thurgau, Stettfurt, die Hauptstrasse, den Garten, das Gehege. Schon kapiert jeder, in welchem Miniaturformat wir unsere Leben eigentlich leben – ganz gleich, ob Mensch oder Schildkröte.

Wobei man da auch noch einmal die Frage diskutieren müsste: Muss man wirklich weit reisen, um viel zu erleben? Könnte Bella reden, würde sie allenfalls sagen: „Naja, dafür einmal fast von einem Fuchs gefressen zu werden, musste ich nicht an einen exotischen Ort reisen – das ist genau hier passiert!“ Klassische Lebensweisheit und Anordnung für jeden Horrorfilm: Das wahre Grauen lauert immer in der Nachbarschaft. Der Kampf hat Spuren auf ihrem Panzer hinterlassen, ein Tierarzt hat sie versorgt, aber sichtbar sind sie noch immer.

 

Schildkröte Bella im Garten des Künstlers Othmar Eder. Auf ihrem Panzer erkennt man die Spuren, die ein Fuchs hinterlassen hat. Bild: Michael Lünstroth

Zeichen eines Überlebenskampfs

Wäre Bella nicht längst bestens vertraut mit dem Künstler Othmar Eder, dessen Garten sie seit vielen Jahren bewohnt, wäre der Überlebenskampf mit dem Fuchs vermutlich der Anlass gewesen, an dem Eder auf die Schildkröte aufmerksam geworden wäre. Denn: Wenn man etwas über den in diesem Jahr mit dem mit 20’000 Franken dotierten Thurgauer Kulturpreis ausgezeichneten Künstler sagen kann, dann das: Spuren jedweder Art wecken sein Interesse. Unter den aktiven Kunstschaffenden in der Ostschweiz ist er vermutlich der grösste Spurensucher.

„Ja, das stimmt wohl“, sagt der Künstler, wenn man ihn an einem Donnerstag Ende Juli fragt, ob das mit den Spuren so etwas wie sein Lebensthema sei. „Mich interessiert dann einfach: Woher kommen die Spuren, wer hat sie hinterlassen und was könnten sie bedeuten?“, sagt Eder. Neugier ist eben noch immer der beste Antrieb für jede künstlerische Arbeit. Spuren also. Man findet sie überall in seinem Werk.

In den Fotos aus alten Illustrierten oder Büchern, die er auf Flohmärkten findet und dann auf seine Weise transformiert. In den Steinen und Kristallen, die er zeichnerisch so detailliert vergrössert, dass sie einem wie Meteoriten vorkommen. In den bis zu 100 Farbschichten, die er in manche Bilder aufträgt. Und manchmal hinterlässt er auch Spuren im eigenen Werk, die er Jahre später wieder aufgreift. Ein Bild kann als Kohlepausung beginnen, dann in Eitempera übermalt werden, später als Ausschnitt in eine Fotomontage eingehen.

Was die Kulturpreis-Jury über Eders Werk sagt

„Othmar Eders Bilder zeigen oft wiederkehrende Motive, leicht variiert oder verfremdet. Die Zeitlichkeit spielt eine wichtige Rolle in seinem Werk. Er verfügt als Künstler über eine unverkennbare Handschrift, dennoch zeigt sich in seinem Werk eine stete Weiterentwicklung. Künstlerisch überragend und einzigartig sind seine oft grossformatigen, subtilen Zeichnungen“, hat die Jury des Thurgauer Kulturpreises im März dieses Jahres geschrieben, als klar war, dass Eder den Preis erhalten würde.

Grund genug, den Künstler zu besuchen. Wir treffen uns in dem rund 300 Jahre alten Bauernhaus in Stettfurt, das der 70-Jährige seit Jahren mit seiner Familie bewohnt. Das letzte Gespräch mit dem Reporter ist sieben Jahre her. Damals war gerade die Monografie „Der Bilderfinder“ über ihn erschienen. Was seither passiert ist? Othmar Eder, immer noch sehr fester Händedruck, hellblaue Jeans, grauer Pullover, aber etwas weniger Haar als beim letzten Treffen, überlegt kurz und sagt dann: „Ich habe weitergearbeitet wie bisher, viel gezeichnet, ein paar neue Themen sind hinzugekommen.“ So weit, so bescheiden.

 

Der Zeichner Othmar Eder in seiner Werkstatt. Bild: Michael Lünstroth

Eine Skulptur aus Bleistiftspänen

Sein Atelier hat er mittlerweile in sein Wohnhaus verlegt, der Arbeitsplatz ist aufgeräumt wie immer. Kugelschreiber, Bleistifte, Gummibänder, Pinsel, Schrauben stehen offen, aber separat gebündelt in Dosen und Schatullen an einem Beistelltisch zum eigentlichen Arbeitstisch. Darauf auch eine Schachtel mit einem Haufen Überresten gespitzter Bleistifte – fast schon selbst eine Skulptur, die die Spuren seiner Arbeit zeigt.

„Diese Momente des Anspitzens sind für mich essenziell“, sagt der Künstler. Aufstehen, den Blick heben, den Stift in die Hand nehmen, ihn mit einem superscharfen Messer in die gewünschte Form bringen – das ist für ihn ein wichtiger Teil des künstlerischen Prozesses. „In diesen Momenten kann ich mich sammeln und fokussieren“, sagt der 70-Jährige.

Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt ein grosses Blatt Papier. Es ist vor allem eines: weiss. Die Botschaft: Die Arbeit hier könnte sofort losgehen. Eine gewisse Zielstrebigkeit gehörte schon immer zu Eders Leben – eine Zielstrebigkeit, die weiss, was sie will, aber nichts übers Knie bricht. Vielleicht liegt das auch an Othmar Eders Weg in die Kunst. Als Bub aus den Tiroler Bergen lag die Wiener Kunstakademie nicht unbedingt auf der Route – auch wenn er schon als Kind immer gezeichnet hat.

 

Ein essenzieller Moment des Innehaltens im künstlerischen Prozess: Othmar Eder spitzt einen Bleistift an. Offensichtlich nicht den ersten. Bild: Michael Lünstroth

Der steinige Weg in die Kunst

Der weitere Weg ist eine Mischung aus Glück und Beharrlichkeit. Irgendwann bekommt er zu Weihnachten ein Buch über Rembrandt, in seinem Heimatdorf lebt ein Künstler, den Eder interessant findet. Und so kommt zusammen, was zusammenkommen soll.

Es endet in dem Entschluss, auf die Kunstakademie nach Wien zu wollen – eine Entscheidung, die bei seinen Eltern keine Begeisterungsstürme auslöste. „Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich meinen Eltern sagte, dass ich Kunst machen und die begonnene Handelsakademie abbrechen will“, blickt der 70-Jährige zurück. Letztlich lassen sie ihn ziehen. Im zweiten Anlauf besteht er die Aufnahmeprüfung in Wien.

Es folgen keine leichten Jahre, aber der Wunsch, Künstler sein zu wollen, bleibt. „Ich hatte dabei das Glück, dass meine Frau einen guten Beruf als Innenarchitektin hatte und ich mich ganz auf die Kunst konzentrieren konnte, ohne andere Dinge tun zu müssen. Dafür bin ich unendlich dankbar“, sagt der Künstler. Auf seinem Weg entdeckt er weitere Kunstspielarten für sich. Zum zeichnerischen Werk gesellen sich Malerei, Fotografie, Film und Installationen. „Für mich gehören alle diese Spielarten zusammen. Ich wollte mich nicht entscheiden müssen“, sagt Eder.

 

 Auch das ist Othmar Eder: Eine Zeichnung nach Motiven von Helen Dahm, 2019, je 80 x 141 cm

Wie Othmar Eder im Thurgau landete

Dass Othmar Eder heute im Thurgau lebt und arbeitet, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. Während eines Aufenthalts in einer Künstlerklause in der Kartause Ittingen erzählt ihm ein Denkmalpfleger von einem zum Verkauf stehenden Bauernhaus in Stettfurt. Damals lebt Eder mit seiner Familie noch in Zürich, aber sie suchen schon etwas Neues. Raus aus der Stadt, rauf aufs Land.

„Wir haben uns dann das Haus hier angesehen und uns sofort verliebt. Ab da war klar, dass dies unser neues Zuhause wird“, sagt Eder. Noch immer ist er froh über diesen Schritt: „Ich lebe sehr gerne im Thurgau, fühle mich hier auch in meiner Arbeit sehr gut unterstützt – das gibt es nicht überall in dieser Weise“, lobt der Künstler die Kulturförderung im Kanton.

Wenn es etwas gibt, das ihn neben Spuren besonders anstachelt zu künstlerischer Arbeit, dann sind es bestimmte Formen. Bei dem Projekt mit den Bergkristallen kamen Spur und Form für ihn auf vortreffliche Weise zusammen. In der Ausstellung „Die Urner Strahler – neue Gotthardröhre“ zeigte Eder 2024 im Thurgauer Naturmuseum Zeichnungen von Mineralien, die bei Bohrarbeiten gefunden wurden. Hierfür recherchierte Eder vor Ort, sprach mit Strahlern – also jenen Menschen, die die Steine im Berg suchen und finden – und entwickelte daraus mit beinahe wissenschaftlicher Akribie eine ganz eigene Kunst. 

 

„Es sind vor allem die kleinen Dinge, die Nebenschauplätze. Was für andere langweilig ist, finde ich spannend.“


Othmar Eder, Künstler

Die Detailliebe und die Präzision der Zeichnungen sind verblüffend. Man meint, fast jede einzelne Jahresspur dieser über Jahrmillionen entstandenen Gesteine darin zu erkennen. Im Katalog zur Ausstellung hat der Kunsthistoriker Invar-Torre Hollos die Methode beschrieben: „Das Motiv wird mittels Projektion vergrössert und in einem zeitlich aufwendigen Prozess mittels Kohlepapier minutiös übertragen. Was sich trotz aller Detailschärfe in diesen Zeichnungen letztlich zeigt, ist vielmehr eine künstlerisch-subjektive Interpretation als ein realitätsgetreues Abbild.“

Interessanterweise hat sich Eder bei der Motivwahl nicht für die exquisitesten Stücke der Mineraliensammlung entschieden, sondern eher für jene, die scheinbar wertlos sind. Damit bleibt sich Eder in seiner Arbeitsweise treu. Denn: „Es sind vor allem die kleinen Dinge, die Nebenschauplätze. Was für andere langweilig ist, finde ich spannend“, sagt Eder. Darin liegt auch ein Motiv seines Kunstschaffens: Er will Dinge herausheben, die sonst unbeachtet blieben. Er will den Scheinwerfer dorthin lenken, wo er normalerweise nie hinkäme.

 

Mineral 2023, Othmar Eder
Mineral 2023, Othmar Eder; Zeichnung auf Papier

Warum Lissabon immer noch seine Herzensstadt ist

Was muss man sonst über Othmar Eder wissen? Seine Lieblingsfarbe ist ein schimmerndes Grün. Er ist ein leidenschaftlicher Stadtwanderer, wann immer es geht, erkundet er Städte zu Fuss. Seine Lieblingsstadt bleibt Lissabon („Mit meiner Liebe zu der Stadt habe ich meine Familie auch ziemlich lange genervt“), weil er dort trotz allen Tourismusgedränges immer wieder neuen Spuren nachgehen kann.

Das leicht Heruntergekommene, der Hafen, die Schiffe, der Duft des Meeres, das Salz in der Luft – die portugiesische Metropole ist für ihn immer noch ein Sehnsuchtsort. Hafenstädte haben es ihm ohnehin angetan. Auch Genua gefällt ihm. „Vielleicht war ich in einem früheren Leben mal Seefahrer“, sagt Eder mit einem Lächeln, um sein Faible zu erklären.

 

Der Künstler bei der Arbeit: Othmar Eder zeichnet. Bild: Michael Lünstroth

Aufgeben? War nie eine Option.

Ob er angesichts seines nicht immer leichten Weges in die Kunst irgendwann einmal ans Aufgeben gedacht hat? Eigentlich nicht, sagt der Künstler. Zum einen sei er finanziell nie in Not gewesen, weil seine Frau einen sicheren Job hatte. Zum anderen ist Othmar Eder mit einer beneidenswerten Zuversicht ausgestattet: „Klar gab es mal schwierige Zeiten. Aber dann muss man immer weitermachen. Kein Tief hält ewig. Irgendwann geht es wieder bergauf“, sagt Eder. Eine Lebensweisheit, die man in dieser Unerschütterlichkeit vielleicht auch nur als Kind aus den Bergen haben kann.

Und jetzt? Wie geht es nun weiter mit seinem Werk? Ist der Thurgauer Kulturpreis für ihn mehr Schlussstrich oder Aufbruch? Eder lacht über diese Frage, so, als könne er gar nicht verstehen, dass jemand jemals Schluss machen könnte mit kreativer Arbeit. „Ich bin noch nicht fertig, meine Suche ist noch nicht zu Ende. Es schlummern immer noch Sachen in meinen Schubladen, an denen ich arbeiten will“, sagt der 70-Jährige.

Reisen, Fundstücke, Langsamkeit: Verbindungslinien in Eders Werk

In seinem Werk gibt es schon jetzt ein paar Verbindungslinien: das Reisen als roter Faden, die Umwandlung von Fundstücken in Kunst, das Schichtprinzip als Metapher, die Verbindung von Natur und so etwas wie Materialpoesie sowie eine Haltung, die sich aus Langsamkeit und Wahrnehmungsintensität speist.

Was der Kulturpreis ihm jetzt bedeutet? „Ich war total überrascht, als mich Regierungsrätin Denise Neuweiler angerufen hat, aber ich habe mich wahnsinnig gefreut.“ Er kennt sogar noch das Datum des Anrufs. Es war der 7. März. „Ich habe gerade gezeichnet und wollte eigentlich nicht ans Telefon gehen. Zum Glück habe ich es dann doch gemacht“, sagt Eder.

 

Sehr aufgeräumt, sehr strukturiert, sehr durchdacht: So arbeitet Othmar Eder. Das erkennt man auch an seinem Schreibtisch. Bild: Michael Lünstroth

Mit der Weisheit einer Schildkröte

Am Ende des Gesprächs noch einmal zurück zu Bella. Vor einigen Jahren hat Othmar Eder sie gross herausgebracht in einem Video. Es zeigt in 40 Minuten den Weg der Schildkröte durch seinen Garten, festgehalten durch eine auf dem Panzer des Tieres montierte Mini-Kamera. „Keiner meiner anderen Filme wurde so oft für Ausstellungen ausgewählt wie dieser“, sagt Eder und kann darüber herzlich bubenhaft lachen. Wäre Othmar Eder ein Charakter in der Jugendbuchserie „Die Schule der magischen Tiere“, sein tierischer Gefährte wäre mit ziemlicher Sicherheit eine Schildkröte.

Nimmt man alles zusammen, was man sich über Schildkröten so sagt, dann sind sie vor allem: geduldig, weise und zäh.

Nicht die schlechtesten Eigenschaften, die ein Künstler heute haben kann.

Video: Bellas Reise

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