von Andrin Uetz, 21.06.2022
Zwischen Aufbruch und Abhängigkeit
Noch bis 10. Juli 2022 ist in der Kunsthalle Arbon die Ausstellung «Anomalie» der früheren Prix-Meret-Oppenheim-Preisträgerin Ilona Ruegg zu sehen. Ergänzend dazu gibt es die Arbeit «Nothing Was Always There» des Teilchenphysikers und Filmemachers James Beacham. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Bereits beim Betreten der Kunsthalle lässt sich erahnen, dass in diesem Raum etwas nicht stimmt, es wird aber auch klar, dass das genau so sein muss. Da schwebt etwa eine Konstruktion im Raum, welche aus einem mit Alufolie überzogenen Schrank sowie einem Gestell besteht und mit zwei schlichten Spanngurten an den Stahlträgern des Dachs der Kunsthalle befestigt ist.
Was Ilona Ruegg in ihrem ehemaligen Atelier in der Roten Fabrik als Lagergestell und Ruhebett diente, hängt nun provisorisch aber nicht ohne Eleganz über dem mit Holzbrettern verstellten Abgang zum Keller der Kunsthalle.
Was im geschützten Raum des Ateliers für Ordnung, Geborgenheit und Ruhe sorgte, ist nun exponiert und hängt behelfsmäßig in der Luft; wird somit vielleicht zu einer Parabel für die prekäre Existenz vieler Kulturschaffenden, welche sich von Atelieraufenthalt zu Stipendium hangeln und sich mit Gelegenheitsjobs irgendwie über Wasser halten, um doch dazwischen immer wieder im luftleeren Raum zu schweben, ohne genau zu wissen, wie es weiter geht.
Enttarnt und exponiert
Auch die titelgebende Installation «Anomalie», welche aus einem dekonstruierten Jagdhochstand in Kombination mit der ausrangierten Arbeitsplattform aus dem Atelier der Künstlerin besteht, ist zugleich beunruhigend und funktioniert dennoch als Skulptur, welche sich sehr gut in den Raum fügt. Die Wände des Hochstandes sind auf der einen Seite mit Stealth-Farbe – einer teerartigen Beschichtung, welche Objekte für Radare unsichtbar macht – bemalt, auf der anderen mit Alufolie ausgekleidet.
Zudem sind die Wände so zusammengewürfelt, dass kein geschlossener Raum mehr entsteht, sondern beide Seiten der Wände sichtbar werden. Der vermeintliche Schutz des unsichtbaren Hochstandes ist aufgebrochen; die Beobachtenden werden selbst zu Beobachteten.
Im Dialog mit dem Weltgeschehen
Die Installation «Anomalie» kann im Kontext der zerstörten Häuser der aktuellen Berichterstattung aus dem Krieg eine besondere Dringlichkeit entfalten, ohne sich plakativ auf diese Aktualität zu beschränken. Im Allgemeinen scheint es um die Fragilität des Heimes, durchaus auch der einfachen Hütten, zu gehen.
Gleichzeitig ergibt sich gerade durch den Aufbruch des geschlossenen Hochstands die skulpturale Qualität der Installation, welche sich um eine der roten Säulen der Kunsthalle schmiegt und deren Raum unaufdringlich, aber dennoch bestimmt, durchkreuzt.
Briefe, die nie angekommen sind
Ergänzend zu den zwei ortsspezifischen Installationen hat Ilona Ruegg Arbeiten «Undelivered 1-4» ausgestellt. Die aus Steinpapier gefalteten Briefe warten in schlichten Boxen aus Plexiglas und schwarz-lackiertem Lindenholz vergeblich darauf, irgendwann geliefert oder gelesen zu werden. Auch hier gelingt die erschütternde Verbindung von Ästhetik und Unbehagen. An wen sind die Briefe adressiert? Wovon wird darin berichtet? Warum wurden sie nicht geliefert?
Eine Bereicherung der Ausstellung ist auch die Arbeit «Nothing Was Always There» des Teilchenphysikers und Videokünstlers James Beacham. Die mit Maschienengeräuschen unterlegten Bilder und Videos zeigen unter anderem Maschinen, Fabriken, Gerüste und Industriebrachen.
Gespenster der Industrialisierung
Dabei scheint das Thema der Hybris einer vermeintlichen Dominanz der Technik über die Natur, sowie die Fragilität dieser künstlichen Schutzräume des Menschen eine ebenso zentrale Rolle zu spielen, was den inspirierenden Austausch zwischen Ruegg und Beacham nachvollziehbar macht.
Die Künstler:innen im Gespräch
Samstag, 25. Juni, 16 Uhr: (un)certainties - (un)gewissheiten
Gespräch (in Englisch) mit Ilona Ruegg und James Beacham, Künstler und Physiker CERN
Video: Rundgang durch die Ausstellung
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